Die Gedanken sind frei

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Die Gedanken sind frei. Seit dem Anbeginn der Menschheit ist das eine unumstößliche Gewissheit gewesen. Eine Konstante des menschlichen Daseins, so sicher wie sonst nur der Tod. Und auch wenn es schon etliche Versuche von Neurowissenschaftlern und Philosophen gegeben hat, uns zu erklären, dass dem nicht so sei, so galt diese Wahrheit doch in einem Sinne ungebrochen: Denn unabhängig davon, woher die Gedanken stammen, die in unserem Kopf herumgeistern, und wie frei oder unfrei wir darin sind, sie zu denken, so sind sie doch immerhin frei von der Beobachtung durch andere. Kein neugierigen Nachbarn, keine selbsternannten Telepathen, keine raffgierigen Konzerne und keine autoritären Regierungen konnten in Erfahrung bringen, welcher Gedanke im Augenblick X durch den Kopf Y rauschte.

Sie haben es natürlich versucht. Immer wieder. Mit Workarounds. Mit Umfragen, mit Folter, mit Befragungen in düsteren, muffigen Hinterzimmern, mit Browser-Cookies, mit Spionagesoftware, mit sozialen Netzwerken, die uns dazu ermutigten, uns selbst zu entblößen und sogar mit totaler Überwachung durch Spitzel, Drohnen und intelligente Kameras. Dadurch haben sie eine Menge erfahren. Sie haben sich ein Bild von uns gemacht, einen digitalen Zwilling, den man analysieren, zum Konsum anregen oder für vermeintliches oder wirkliches Fehlverhalten bestrafen konnte. Doch so detailliert dieses Abbild von uns auch wurde, es blieb dennoch ungenau. Unvollkommen. Unidentisch mit uns. Auch wenn es zunehmend anstrengender wurde: Wir konnten nach wie vor lügen, fantasieren und einige, wertvolle Geheimnisse vor jedem Zugriff bewahren. Denn an den Kern unseres Wesens, an das kleine gallische Dorf hinter unserer Stirn, an diese letzte Widerstandszelle kamen sie dennoch nicht heran.

Bis vor zwei Monaten. Die Technologie für dieses Verfahren hatte es streng genommen schon früher gegeben, jedoch war sie umständlich gewesen, extrem teuer und hatte zwingend erfordert, dass man den “Verdächtigen” erst einmal einfängt, ihn auf einen Stuhl schnallt und Elektroden an seinem Kopf anbringt, was für die gesamte Bevölkerung dann doch ein wenig zu aufwändig gewesen wäre. Doch vor zwei Monaten, am 1. Mai 2037 hatten es den technologischen Durchbruch gegeben. Schon vorher hatten natürlich Gerüchte kursiert, dass die Regierung an so etwas arbeiten würde, aber in einer schon vor Beginn der Diktatur von Fake-News und Halbwahrheiten rettungslos verseuchten Informationslandschaft waren Gerüchte in etwa so viel wert gewesen wie unsere Grundrechte. Spätestens nach der vollkommenen Gleichschaltung der Medien und der Abschaffung der Meinungs- und Pressefreiheit waren den kritischeren Geistern nur noch zwielichtige, kompliziert zu erreichende Chatrooms geblieben, in denen sich in den meisten Fällen mehr Drogendealer, Kinderschänder, Bots und Regierungsagenten als Widerständler getummelt hatten.

Doch selbst die Besten davon waren bestenfalls Selbsthilfegruppen für Menschen gewesen, die zu störrisch waren, das Unvermeidliche einzusehen: nämlich, dass das unruhige Pendel der Menschheitsgeschichte nach ein paar verirrten Zuckungen in Richtung “Licht” nicht nur einen ordentlichen Schwung in die “Dunkelheit” gemacht, sondern dort unrettbar steckengeblieben war. Wir waren zwar noch nicht ganz in der absoluten Dystopie angekommen, aber fast und das auch noch in Rekordzeit. Auf einer Welle von demokratiefeindlichen Wirtschaftsliberalen, reaktionären Nationalromantikern und überdrehten Verschwörungstheoretikern, die erst aufhörten, ihre Heimatländer als Diktaturen zu bezeichnen, als sie welche geworden waren, gelangten mehr und mehr menschenfeindliche Irre in die Regierungssitze der Welt.

Schon bald wurden sie von deutlich rationaleren, aber nicht minder unsympathischen Technokraten abgelöst, die meinten, dass es für jedes nur erdenkliches Problem, welches das menschliche Zusammenleben mit sich bringt, nur eine einzige Lösung geben konnte: totale Kontrolle. Praktisch bedeutete das: Grenzschließungen, Polizeistaat und Überwachung, Überwachung, Überwachung. Auf öffentlichen Plätzen, dem Arbeitsplatz, in Toiletten, unseren Wohnungen, Autos, öffentlichen Verkehrsmitteln, einfach überall. Passend dazu wurden Regeln aufgestellt, die uns neben Kritik an der Regierung so ziemlich alles verboten, was zum freien Denken ermutigte, den sozialen Zusammenhalt förderte oder auf irgendeine Weise Spaß machte. Das lief ziemlich schnell auf einen sehr konkreten und simplen Lebensentwurf hinaus. Wir durften arbeiten (möglichst lang und hart), konsumieren (möglichst viel), Regierungsnachrichten schauen (möglichst unkritisch) und schlafen (möglichst kurz). Das Internet wurde – auf Basis der schon lange vorher geschaffenen Filtertechnologien – bis zur Unkenntlichkeit zensiert. Die Fortpflanzung wurde vollkommen auf künstliche Reproduktion umgestellt. Sexuelle Kontakte wurden genauso verboten wie alle anderen irgendwie vermeidbaren Kontakte zu Mitmenschen. Freundschaften standen unter Strafe, Beziehungen und Ehen wurden getrennt, Wohngemeinschaften aufgelöst. Auch bei der Arbeit wurde menschlicher Kontakt auf ein Minimum reduziert und von jeder zwischenmenschlichen Färbung befreit. Jede Kommunikation wurde digitalisiert. Das bisschen Freizeit, das uns zugestanden wurde, galt allein dem Erwerb und Gebrauch von Konsumgegenständen und billigster, geistlosester Unterhaltung.

DIE CREEPYPASTA SAMMLUNGWo Geschichten leben. Entdecke jetzt