Das Abendessen

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Tim
Auf der Suche nach einem netten Restaurant liefen wir am Rand des Parks entlang. Die Stimmung war immer noch angespannt, aber ich war Jan sehr dankbar für seinen Vorschlag, Abendessen zu gehen. Im Hotelzimmer hätte ich meine Verzweiflung wohl kaum länger verbergen können und so konnten wir schweigend nebeneinander her gehen, ohne dass es komisch war. In dem noch immer sonnigen Park tummelten sich fröhliche Schweden, die ihren Feierabend endlich wieder bei Sonne genießen konnten. Der Trubel füllte die Stille zwischen Jan und mir.
"Lecker Hundefleisch!", rief Gisela plötzlich und deutete auf einen kleinen, ziemlich süßen, schwarz-weißen Hund, der uns mit seinem Herrchen entgegenkam. Ich musste schmunzeln, weil ich meinte, Jans Hunger aus Giselas Tonfall herausgehört zu haben. Der Hundebesitzer schaute kurz verwirrt, aber als er mein Lächeln sah, erwiderte er es und nickte uns freundlich zu. Sobald er vorbeigelaufen war, schauten Jan und ich uns an und mussten Lachen.
"Es ist so praktisch, dass hier niemand Deutsch kann, da muss ich die Tics ja gar nicht so sehr unterdrücken", freute sich Jan und tatsächlich wurde Gisela daraufhin deutlich aktiver. Alle, die uns begegneten, bekamen irgendeinen Kommentar zu hören, aber die meisten reagierten genauso freundlich wie der Hundebesitzer. Am Anfang versuchte ich noch, mir das Lachen zu verkneifen, um die Leute nicht zu verunsichern, aber das ging nicht lange gut. Und obwohl ich mich eigentlich total für Jan freute, weil er das Tourette nach all den Jahren inzwischen so gut im Griff hatte, merkte ich doch, wie sehr ich Gisela in letzter Zeit vermisst hatte. So viel hatte ich wirklich schon lange nicht mehr gelacht und im Lösen von angespannten Situationen war sie einfach die Meisterin schlechthin.

Jan
Es dauerte eine Weile, bis wir ein Restaurant gefunden hatten, das uns gefiel. Aber ich war so erleichtert darüber, dass Tim wieder entspannt und fröhlich war, dass mein Hunger in den Hintergrund gerückt war. Stattdessen schwebte ich mal wieder in diesem ganz bestimmten Hochgefühl, das sich immer genau dann bei mir einstellte, wenn Tim und ich gemeinsam Spaß hatten. Von mir aus hätten wir auch den restlichen Abend lachend durch den noch sonnigen Park laufen können. Das Restaurant sah aber wirklich nett aus und wir setzten uns an einen Tisch direkt am Fenster. Unter der Woche schien hier nicht viel los zu sein, deshalb kam direkt ein junger Kellner und brachte uns die Speisekarten, während er in einem freundlichen Ton Schwedisch redete. „Tack!", sagte ich lächelnd ohne irgendetwas verstanden zu haben.
Als Tim und ich die Speisekarten öffneten, warfen wir uns einen verzweifelten Blick zu. Die Gerichte standen nur auf Schwedisch da und nicht zusätzlich auf Englisch, wie wir es aus Touristengegenden gewohnt waren. Wir versuchten also ein paar Begriffe zu erraten um uns einen Überblick zu verschaffen und das war erstaunlich witzig.
„Schau mal, hier, Grönsaker müsste doch Grünsachen heißen, das ist also Grünzeug", bemerkte Tim kichernd. Auf ähnliche Weise und nach dem Ausschlussprinzip, hatten wir es geschafft, auch die restlichen Überschriften zu entschlüsseln, bevor der Kellner wieder zu uns kam und mit einem charmanten Grinsen sagte: "It's cool, that you're having so much fun, but of course I could also help you to translate the menu."

Mit seiner Hilfe war es tatsächlich einfacher, leckere Gerichte für uns zu finden und als er mit unserer Bestellung wieder hinter dem Tresen verschwunden war, lehnte ich mich verschwörerisch über den Tisch und fragte Tim: "Glaubst du, er ist auch schwul?"
"Äh, keine Ahnung", antwortete dieser ein bisschen zu schnell und schaute aus dem Fenster. Sofort war die entspannte Stimmung vorbei. Ich ärgerte mich maßlos über mich,  weil ich diesen unnötigen Kommentar gemacht hatte, aber auch über Tim, weil ich nicht verstand, was eigentlich sein Problem war. Ich hatte einfach das Gefühl gehabt, dass er uns für ein schwules Pärchen hielt und mit uns flirtete, und war neugierig gewesen, ob Tim das auch aufgefallen war.

Während des Essens schafften wir es zum Glück, die doofe Stimmung zu überspielen und unterhielten uns ganz normal. Nur das Lachen war leider verschwunden.
Doch als ich bezahlte und dabei mit dem Kellner herumwitzelte, bis er uns mit sehr anzüglichem Unterton einen "Schönen Abend" wünschte, bekam Tim wieder diesen komischen Gesichtsausdruck und verließ das Restaurant, ohne auf mich zu warten. War er etwa eifersüchtig? Selbst wenn er wirklich bisexuell war und auf mich stand, wie ich es mir, wegen seines Verhaltens in den letzen Tagen, irgendwie erhoffte, wäre das doch albern, weil der Kellner ganz offensichtlich uns beide einfach nett fand. Wir mussten wohl endlich über all das reden!

Tim

Es dämmerte schon, als wir das Restaurant verließen.
"Tim, was ist denn los? Ich merke doch, dass irgendetwas nicht stimmt und du bist schon seit gestern Abend so komisch. Bitte sag mir, was los ist.", begann Jan das Gespräch, sobald wir den Rückweg durch den Park eingeschlagen hatten. Ich bekam Panik. Ich wollte nicht darüber reden! Schon gar nicht hier im menschenleeren Park, wo es keinerlei Ablenkung gab. Hier fühlte ich mich meinen Gefühlen und Gedanken völlig ausgeliefert.
"Keine Ahnung, es ist alles in Ordnung", erwiderte ich und versuchte möglichst desineressiert zu klingen. Doch ich hörte selbst, dass es nicht funktionierte und blaffte deshalb: "Lass mich einfach in Ruhe!"

"Ok, dann halt nicht!", antwortete Jan sichtlich angepisst und ging ein paar Schritte schneller.
Oh scheiße, scheiße scheiße! dachte ich. Jetzt war es passiert. Jetzt hatte ich ihn entgültig vergrault. Warum war ich so? Verzweifelt versuchte ich Schritt zu halten, während er mir mit seinem zügigen Tempo deutlich zu verstehen gab, dass er keinen Bock mehr auf mich hatte. Irgendwann gab ich einfach auf. Ich versank in meinem Selbstmitleid und trottete blind hinter ihm her.
So liefen wir einige Meter voneinander entfernt durch den stillen, grauen Park. Mit jedem Schritt, den er sich von weiter von mir entfernte, verstärkte sich das Gefühl, dass er sich ganz und gar aus meinem Leben entfernte. Klar, wir hatten uns schon oft gestritten und wieder vertragen, aber das hier war anders. Unsere Beziehung hatte sich in den letzten paar Tagen so stark weiterentwickelt, dass es einfach kein Zurück mehr gab. Das hatte der heutige Abend mit deutlich gezeigt, auch wenn er so vielversprechend angefangen hatte. Und ein Vorwärts schien mir gerade auch unvorstellbar, solange ich es nicht auf die Reihe bekam mit ihm über meine Gefühle und Gedanken zu sprechen. Plötzlich realisierte ich, dass ich nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen hatte. Ich musste es jetzt einfach tun! Aber wie denn bloß? Mein Herz pochte wie verrückt und meine Hände zitterten. Es fühlte sich an wie Höhenangst. Und trotzdem würde ich gerade 1000 mal lieber aus einem Flugzeug springen, als Jan meine Gefühle zu offenbaren. Einige Meter vor uns stand ein großer Baum am Wegesrand. Ich beschleunigte meine Schritte und nahm mir fest vor, es zu tun, sobald wir dort angekommen waren.

Noch drei Schritte. Noch zwei, noch einer...

"Warte kurz!", wollte ich rufen, aber meine Stimme brach mittendrin weg. Jan blieb trotzdem stehen und drehte sich zu mir um. Ich hatte erwartet, Wut in seinen Augen zu sehen, aber sie waren ganz sanft. Ich blieb vor ihm stehen und konnte nicht anders, als ihn einfach anzustarren. In all der Aufregung hatte ich ganz vergessen, mir zu überlegen, was ich eigentlich genau sagen wollte.
„Was denn?", fragte er nach einigen Sekunden verwirrt. Ich schaute immernoch in seine schönen, braunen Augen und war wie gelähmt. Dann küsste ich ihn. Einfach so. Bis ich überhaupt realisiert hatte, was ich da gerade tat, erwiderte er den Kuss bereits und zog mich fest an sich. Ich spürte meine Hände an seinem Hinterkopf liegen, ohne überhaupt zu wissen wie sie dort hingekommen waren. Und dann spürte ich nichts mehr außer seinen weichen Lippen auf meinen. Es fühlte sich an, als würden wir gemeinsam durch den Park schweben, immer höher und höher.

Ich bemerkte einen salzigen Geschmack auf unseren Lippen, aber erst als Jan den Kuss plötzlich unterbrach und bestürzt fragte: „Tim! Weinst du?", realisierte ich, dass mir tatsächlich die Tränen über das Gesicht rannen. Ich vergrub meinen Kopf in Jans Halsbeuge und konnte einfach nichts dagegen tun, dass ich auch noch heftiger zu schluchzen begann. Jan drückte mich ganz fest an sich, bis mein Körper sich langsam beruhigte. Dann nahm er meine Hand und führte mich zu einer Parkbank. In meinem Kopf herrschte ein dichter Nebel und ich konnte nur eine einzige Sache denken: Dass ich ihm jetzt alles erzählen musste. Ob ich wollte oder nicht, ich war es ihm schuldig.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 14, 2021 ⏰

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