sechs.

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„Du hast mich verdammt nochmal nicht angerufen!"

Ich knabbere an dem Stück Schokolade, das ich zwischen meinen Fingern halte.
„Ich weiß, tut mir leid. Ich hatte einfach..."

„Zu viel zu tun?", unterbricht mich Leah. Sie ist wütend, das kann man nicht überhören. Und sie hat auch allen Grund dazu.

„Leah, ich...es tut mir leid.", seufze ich.

„Steck dir deine Entschuldigung sonst wo hin!"

Und dann legt sie auf.
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Ich habe Leah versprochen, sie unmittelbar nach dem Flug anzurufen, und ich hatte es auch wirklich vor. Mittlerweile bin ich schon seit 5 Tagen in Oslo und ich habe es noch nicht einmal geschafft, ihr wenigstens eine Nachricht mit einem schlichten „Alles ok 👍🏻" oder „Mir gehts gut" zu schreiben. Ist doch nicht zu viel verlangt, oder?
Und trotzdem habe ich es nicht gemacht.
Ich hätte mir gerne - wenn ich ehrlich bin, habe ich es auch eine lange Zeit getan - eingeredet, dass ich zu viel Uni-Stress habe oder dass ich es einfach vergessen habe, aber ich weiß, dass das nicht der wahre Grund ist. Überhaupt, auch Stress in der Uni ist keine Entschuldigung dafür, seine Freunde im Stich zu lassen oder zu vergessen. Seine Freunde lässt man nicht im Stich.

Ich lasse von dem Stück Schokolade ab - ich erlaube mir nicht, mehr davon zu essen - und lasse es für den Moment einfach auf dem Tresen liegen.
Ich schnappe mir meinen kuscheligen lila Bademantel und verschwinde in dem kleinen, aber gemütlichen Bad meiner Wohnung.
Ich muss unbedingt Stress abbauen. Und das heißt für mich: Duschen gehen. Am besten für eine lange Zeit. Am besten für immer.
Ist doch ein schöner Gedanke, oder? Dass das Wasser einem all den Stress und all die negativen Sachen des Lebens abwaschen kann.
Der Gedanke tröstet mich immer ein wenig, auch, wenn er nicht stimmt.

Ich stelle schließlich das Wasser wieder ab und nach der halben Stunde, wie ich schätze, die ich unter der Dusche verbracht habe, fühle ich mich tatsächlich ein wenig besser. Aber eben auch nur ein wenig.
Mein Magen knurrt und ich schmeiße mir zügig den Bademantel um die Schultern und schlendere in die Küche.
Da mein Kühlschrank nicht wirklich viel zu bieten hat, beschließe ich, mir nur einen Kaffee rauszulassen. Ich beobachte die cremefarbene Flüssigkeit, während sie in die Tasse fließt.

Ich kann einfach an nichts anderes als an Leah denken. Es tut mir so verdammt leid, ich bin mir sicher, das weiß sie auch. Ich kann gut nachvollziehen, wieso sie trotzdem so wütend auf mich ist. An diesem einen Tag, damals, konnte sie mich auch nicht erreichen. An diesem Tag hatte sie auch nichts von mir gehört. Und wir beide haben uns wahrscheinlich immer noch nicht ganz davon erholt. Genau genommen hat es seitdem immer zwischen uns gestanden, ich konnte es fühlen.

Der Grund, wieso ich ihr weder geschrieben, noch sie angerufen habe, ist eigentlich ganz simpel.
Und doch zu kompliziert. Zu verwickelt. Zu verstrickt.
Leah ist so ziemlich meine einzige „echte" Freundin. Natürlich hat ich ein paar mehr Freunde, mit denen ich nachts die Clubs abklappere und einen Shot nach dem anderen trinke, aber das ist nicht das gleiche. Niemanden von ihnen kann ich meine Geheimnisse anvertrauen. Mit niemandem von ihnen habe ich schon so viel erlebt wie mit Leah.
Ich hätte sie so gerne angerufen, aber das hätte bedeutet, dass ich Kontakt nach Deutschland aufnehme. Und das will ich nicht. Zumindest noch nicht. Ich will das alles noch für eine kurze Zeit verdrängen. So lange, wie es mir eben möglich ist.

Leah war schließlich diejenige, die mich heute Vormittag angerufen hat. Sie hat mir zunächst ein paar Tage Zeit - Freiraum - gegeben, denn sie weiß, dass ich das brauche. Aber nach Tagen Funkstille hat sie angefangen, sich Sorgen zu machen. Jeder hätte angefangen, sich Sorgen zu machen.

Wenn der Schnee fälltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt