neun.

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Arian

Von dem Fenster des sechsten Stockes aus kann man fast die ganze Stadt sehen. Ich habe Oslo schon oft von unten gesehen, aber nie so.
Wir haben mittlerweile späten Nachmittag, ich glaube etwas später als 5 Uhr, aber es ist schon stockdunkel. Die Lichter der vielen Häuser strahlen und von hier aus könnte man meinen, es seien viele kleine Glühwürmchen.
Ich war noch nicht oft in dem Gebäude, aber jetzt, wo unsere Firma den Deal angenommen hat, werde ich wohl öfter hier sein.

„Arian? Kannst du mir kurz helfen?", höre ich meinen Namen und ich drehe mich um.
Noel, mein Chef, sitzt vor seinem alten Laptop und klickt verwirrt auf der Maus herum.
„Ja, Chef?"
Ich stelle mich hinter ihn und blicke auf den Bildschirm.
„Was muss ich denn da jetzt machen?", fragt er, und ich muss fast loslachen, aber unterdrücke es im letzten Moment.
Er hat die PowerPoint offen, die ich gestern Abend noch auf den letzten Drücker zusammengestellt habe.
„Meinen Sie, wie Sie in den Vollbildmodus kommen?"
Sein Kopf dreht sich zu mir und er starrt mich verwirrt an.
„In den was?"
Diesmal kann ich mich nicht zurückhalten und ein leises Lachen löst sich von meinem Mund.
Ich nehme die Maus und klicke auf das kleine Symbol ganz unten rechts, und die Präsentation erscheint im Vollbildmodus.
„Ahh, danke, Arian. Du weißt ja, wie das ist. Wir alten Knacker sind eben nicht so auf dem neusten Stand", lacht nun auch er. Es ist ihm überhaupt nicht unangenehm, dass er sich nicht gut mit Computern auskennt, und er ist jemand, der auch mal über sich selbst lachen kann. Das ist eine Eigenschaft, die jedem von uns den Tag auf der Arbeit immer ein bisschen schöner macht.

Die Tür fliegt auf und ich zucke kurz zusammen. Ein paar Mitarbeiter der anderen Firma stürmen regelrecht hinein und lassen sich auf die Stühle fallen. Ihre Chefin, ich glaube sie heißt Janna, aber wir kennen sie unter dem Namen Frau Abels, geht auf Noel zu, der sich kurzerhand erhebt und ihr die Hand gibt.

„Schön Sie zu sehen, Frau Abels. Können wir dann gleich anfangen?", fragt er sie, und Frau Abels schüttelt ihren Kopf.
„Nein, tut mir leid. Wir müssen noch auf jemanden warten."
Sie reibt sich die Stirn, es wirkt fast so, als würde sie versuchen ihre Falten zu glätten.

Ich blicke mich um und frage mich, auf wen wir noch warten, denn eigentlich sind wir schon alle.
Ich höre das leise Klingeln des Fahrstuhls, und schon wieder fliegt die Tür auf.
Im Türrahmen steht Svea. Sie hat einen unglaublich schönen Namen. Ich habe ihn bis jetzt nur ein Mal ausgesprochen, als ich sie nach dem Meeting auf der Straße aufgehalten habe, und mir ist sofort aufgefallen, wie leicht und schön er mir über die Lippen kommt.
Ich forme ihren Namen still mit meinen Lippen und würde ihn am liebsten noch einmal aussprechen.

Sie umklammert die Tasche, die ihr über die Schulter hängt, und sie entschuldigt sich hastig für ihre Verspätung. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich in schnellem Wechsel, und sie sieht unendlich müde aus. Irgendwie erschöpft. Noch mehr als das.
Sie trägt eine hellblaue Jeans und einen weißen Pullover mit Kragen. Ihre dunklen Haare fallen ihr locker über die Schulter.
Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hatte sie sie in einem tiefen Dutt zusammengesteckt, was unfassbar schön aussieht.
Sie setzt sich sofort neben Janna, die ihr kurz zulächelt.

„Also dann, beginnen wir mit dem Meeting."
Mein Chef steht neben mir und begrüßt alle.
„Ich möchte noch jemanden ganz besonders begrüßen, und zwar Fräulein Abels."
Er deutet auf Svea, und da fällt mir wieder ein, dass ich keine Ahnung habe, wieso sie eigentlich hier ist.
Beim letzten Meeting war sie nur dabei, weil der Firma ihr Biologe abgesprungen ist.
Aber jetzt?

Frau Abels", betont sie, ihre Stimme ist laut und klar, und ich bin so geflasht von dieser Aussage und ihrem Auftreten, dass ich leise kichern muss.
Kurz treffen sich unsere Blicke und es fühlt sich so an, als würde ein Stromschlag durch meine Nerven zischen und sie voll und ganz betäuben. Ich kann eine Weile meinen Blick nicht von ihr abwenden, doch dann reiße ich mich los und befehle meinem klopfenden Herz, sich wieder zu beruhigen.
Mein Chef sieht verblüfft aus, so, als hätte er nicht erwartet, dass sie ihm widerspricht, dann räuspert er sich und murmelt eine leise Entschuldigung.

„Wir begrüßen Sie hier herzlich und freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit", sagt er schließlich, diesmal wieder laut.

Svea oder Frau Abels nickt ihm zu, und ich kann ihr ansehen, dass es ihr unangenehm ist, im Mittelpunkt zu stehen. Ihre Hände, die in ihrem Schoß liegen, presst sie so fest zusammen, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.
Halt, einen Moment.
,wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit'
Sie arbeitet ab jetzt hier? Habe ich etwas verpasst?

Ich stupse Henry von der Seite an und flüstere: „Sag mal, wann wurde das denn entschieden?"
„Hast du das nicht mitbekommen? Noel war so begeistert von ihr, dass er sie unbedingt dabei haben wollte, es gab sogar eine Abstimmung. Aber halt, ich glaube, als das passiert ist, da warst du schon gegangen."

Es war also beim letzten Meeting.
Ich erinnere mich daran, dass Noel noch sagte, dass er unsere Meinung zu etwas haben wollen würde, aber es war mir egal. Ich habe Svea vom Fenster aus auf der Straße laufen sehen, und bin sofort hinausgestürmt, um sie noch abzufangen.
Kein Wunder also, das ich das nicht mitbekommen habe.

Während dem Meeting schaue ich Svea kein einziges Mal mehr an. Ich habe Angst vor dem, was sie in mir auslöst. Aber gleichzeitig erwische ich mich immer wieder dabei, wie meine Augen zu ihr driften, zu verlockend ist einfach das Gefühl, das sie in mir auslöst.
Aber ich kann nicht. Ich darf nicht. Ich darf es nicht zulassen.

Noel reißt mich aus meiner Starre.
„Ich würde vorschlagen, Frau Abels-"
Er deutet auf Svea.
„-dass sie mit uns in Kontakt bleiben."
Svea nickt, und er dreht sich zu uns.
„Würde jemand sich bereit erklären, diese Aufgabe mit Frau Abels zu übernehmen?"
Noel dreht sich nun zu mir, Henry und den anderen und blickt uns fragend an.
Ich habe keinen blanken Schimmer um was es geht oder welche Aufgabe das sein soll - ich habe die ganze Zeit nicht zugehört, sondern war in Gedanken bei ihr- aber es ist mir egal. Bevor ich wirklich realisiere, was ich da tue, sage ich:
„Ich mach's."

Ein paar Sekunden vergehen und niemand sagt etwas. Henry sieht mich verwirrt von der Seite und auch auf Noels Stirn kräuseln sich ein paar verwirrte Falten.
Ich wage es, einen Blick in Svea's Richtung zu werfen. In ihren Augen sehe ich ebenfalls Verwunderung aufblitzen.

„Nun gut", sagt Noel schließlich und dreht sich wieder zu Frau Abels und Svea.
„Ist das für Sie in Ordnung, Frau Abels?"
Sie nickt nur.
„Wenn das für dich okay ist?", fragt sie und sieht Svea an.
Svea nickt nur stumm, und in dem Moment überrennt es mich wie eine Herde wilder Stiere.
Was tue ich hier eigentlich?
Aber es ist schon zu spät. Ich kann jetzt nicht mehr absagen. Vielleicht rede ich mir das auch nur ein, ich weiß es ehrlich nicht. Ich fühle mich, als würde ein Krieg in meinem Kopf herrschen, und beide Seiten wollen unbedingt gewinnen.
Ich will sie kennenlernen. Unbedingt.
Das wollte ich ab dem Zeitpunkt, als sie mich auf der Straße umgerannt hat. Da gab es einen Moment, wo ich etwas gefühlt hatte, was ich nicht beschreiben kann. Irgendwie eine Mischung aus Wärme und Kälte. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat, aber ich will es unbedingt herausfinden.

Aber ich kann ihr nicht von meiner Vergangenheit erzählen, sonst kommt alles wieder hoch. All die Dinge, die ich mit Mühe verdrängt oder vergessen habe.
Meine Vergangenheit hat mich schon ein Mal fast umgebracht, und das wird mir nicht wieder passieren.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 06, 2021 ⏰

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