sieben.

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Scheiße.
Ich muss es sofort loswerden. Sofort.
Ich lasse Kjer und Ela auf der Tanzfläche stehen und sprinte, oder wohl eher wackele, in Richtung Toilette. Mit meinen Ellenbogen schubse ich die dunkle Holztür auf uns lasse mich auf die Knie fallen. Dass ich die Kabine nicht abgeschlossen habe, ist mir gerade ziemlich egal.
Kalorien loswerden. Jetzt.
Ich schiebe mir die Finger in die Kehle und dann kotze ich alles raus. Und wenn ich alles sage, dann meine ich auch alles.
Ich fühle mich so schwach danach, dass ich glaube, ich würde auf der Stelle umkippen. Aber wenigstens bin ich nun die Kalorien los. Alkohol ist bekanntlich die Kalorienbombe schlechthin.

Ich lehne meinen Kopf gegen meine Arme, die auf der Toilettenbrille gestützt sind. Alles dreht sich, mein Herz klopft wild und mir ist schlecht. Verdammt.
In mir steigt Panik hoch.
Scheiße, scheiße, scheiße.
Ich habe früher immer Panik bekommen, wenn ich viel Alkohol getrunken habe. Für eine Zeit lang konnte ich die Attacken unter meiner Haut begraben. Nun, so scheint es, graben sie sich selbst wieder aus.
Ich hasse es, die Kontrolle zu verlieren, das habe ich schon immer, aber vor fünf Shots habe ich noch gedacht, es wäre schön, mal wieder ein wenig Spaß zu haben. Ich habe gedacht, ich würd es schaffen, die Panik unter der Oberfläche zu halten.
Ich hätte wissen sollen, dass mein schwacher Körper nicht viel verträgt.

„Svea?"
Jemand ruft nach mir. Ich versuche mit all meiner Willenskraft, den Kopf zu heben, schaffe es jedoch nicht. Stattdessen verlässt ein leises Stöhnen meinen Mund.
Die Kabinentür knallt laut gegen die Wand, und kurze Zeit später umfasst jemand meine Haare, als mich auch schon der nächste Kotz-Anfall überkommt.
„Lass alles raus", höre ich neben meinem Ohr.
Ich raffe mich zusammen und blicke nach oben.
Ela steht neben mir und bückt sich leicht lächelnd zu mir runter.
„Alles gut, ich bin für dich da."
Und dann wird alles schwarz.

Ich glaube, ich habe noch nie so tief geschlafen.
Aber das meine ich nicht positiv. Es war kein erholsamer Schlaf, sondern einfach so, als wäre ich komplett weggewesen. Einfach nicht da. Quasi nicht existent.
Aber dann wache ich auf und mir knallt die Sonne ins Gesicht. Ich kneife meine Augen zu, jedoch bahnt sich die Sonne auch ihren Weg durch meine Augenlider. Mein Kopf dröhnt. Das ist das einzige, woran ich gerade denken kann.
Ich schlage die Augen auf und mein Körper rutsche reflexartig aus der Sonne.
Ich bin mich in einem weißen Zimmer. In der Ecke steht ein kleiner Spiegel und neben ihm ein Schminktisch. Ich komme nicht dazu, den Raum weiter zu analysieren, da sich etwas weißes in der anderen Ecke bewegt.

„Kjer?", flüstere ich heiser. Mehr lässt meine Stimme nicht zu.

„Mmh", bekomme ich als Antwort.
Also gut. Ich stehe auf und gehe auf wackeligen Beinen zu Kjer. Bis auf meinen dröhnenden Kopf geht es mir erstaunlich gut. Naja, ich habe im Grunde ja auch nicht viel getrunken gestern Abend.
Ich rüttele ein paar Mal an Kjer's Körper, doch irgendwann gebe ich es auf.

„Guten Morgen"
Ich dreh mich um. Ela steht im Morgenmantel in der Tür und lächelt mich verschlafen an.
„Ach, lass ihn einfach liegen. Kjer kommt vor 12 sowieso nicht hoch."

Eine Stunde später sitzen wir drei am Esstisch, um zu frühstücken. Oder besser gesagt, um Mittag zu essen, oder was auch immer. Ela hat Recht gehabt, Kjer ist wirklich nicht vor 12 aufgestanden.
Sie war so nett und hat mir und Kjer ein paar Pancakes gemacht, die sich nun vor uns auftürmen.
Ohne mich vorher danach gefragt zu haben stellt sie mir eine fette Tasse Kaffee hin.
„Danke, Ela", stöhne ich erleichtert.
„Kein Problem."
Ich nippe an meinem Kaffee, und mit jedem Schluck scheint sich der Neben in meinem Kopf immer mehr und mehr zu lichten.

„Sagt mal, wie sind wieso bin ich gestern nicht einfach heimgegangen? Wieso bin ich hier bei euch aufgewacht?"
Ela lacht, während Kjer nur mit geschlossenen Augen ein Brummen von sich gibt. Er sieht aus wie ein beleidigter, alter Grinch, wie er so da sitzt mit den verschränkten Armen und der leichten grünen Farbe im Gesicht. Ihm ist wahrscheinlich genau so schlecht wie mir gestern Abend.

„Witzige Geschichte. Du bist umgekippt, wir haben dich zu uns nach Hause getragen."
Kjer sieht sie grimmig von der Seite an.
„Du meinst wohl, ich habe sie nach Hause gebracht."
Ela lacht wieder.

„Stimmt. Und dabei bist du auch umgekippt und in meinem Zimmer auf dem Boden eingepennt."
Kjer hebt seine Hände. „Schuldig."
Ich bemerke, dass er versucht es zu verstecken, jedoch sehe ich das kurze Lächeln auf seinen Lippen.
„Aspirin?", fragt Ela mich und Kjer.
„Ja bitte", antworten wir beide wie im Chor, und dann müssen wir alle kichern.
Wow, dass ist das erste Mal, dass Kjer in meiner Anwesenheit lacht. Scheint so, als wäre das Eis gebrochen.

„Fuck!", spreche ich meinen Gedanken laut aus, als ich die 5 verpassten Anrufe von Janna auf meinem Bildschirm aufleuchten sehe.
Ich habe ihr ja gesagt, sie könne mich jederzeit anrufen, und dann habe ich es einfach vergessen. Sie muss sich große Sorgen gemacht haben.
„Ich geh kurz raus."

Ich lehne mich gegen das Geländer des Balkons.
Kjer und Ela wohnen in einer sehr schönen, offenen und großen Gegend mit viel grüner - oder im Winter weißer - Fläche. Während ich darauf warte, dass Janna meinen Anruf entgegennimmt, beobachte ich die Umgebung.
Ein großer Baum, eine Frau, die mit ihrem Golden Retriever spazieren geht, ein silbernes Auto, nein, zwei silberne Autos, ....
„Hallo?"

„Janna! Sorry, dass ich die ganze Zeit nicht rangegangen bin. Ich war gestern aus und dann hatte ich total..."

„Alles gut, Svea. Kein Problem. Es ist nicht dringend. Hast du gerade Zeit, oder störe ich?"
Janna hört sich verschlafen an, dabei ist es doch schon gegen 1 Uhr.

„Ich habe Zeit. Also, was ist los?"

„Kurz gesagt war die Firma so überzeugt und begeistert von deinem Vortrag, dass sie dich gerne weiterhin bei dem Projekt dabei haben würden. Ich habe versucht, es ihnen auszureden, aber meine Kollegen meinten auch, dass sie es gut fänden."

Ich kräusele meine Stirn. Worauf will sie hinaus?

„Willst du vielleicht einen kleinen Job in unserer Firma?"

Ich...wow. Mein Mund steht offen. Und der Nebel in meinem Kopf scheint sich wieder zuzuziehen.
„Svea?"

„Ja! Ich meine, geht das denn überhaupt? Als Studentin?"
Ich halte den Atem an.

„Ja, prinzipiell schon. Du kannst dann einfach nicht die größten Aufgaben übernehmen, aber bei dem Projekt bist du auf jeden Fall dabei. Was sagst du?"

„Ja, aber klar! Danke Janna, das hört sich wirklich super an."
Ich muss gerade total bescheuert aussehen, denn ich grinse vor mich hin wie ein Honigkuchenpferd.

„Freut mich sehr zu hören. Kannst du am Dienstag gleich in unsere Firma kommen? So gegen 16:00 Uhr?"

„Nein...da habe ich leider noch eine Vorlesung. Aber gegen 5 bin ich da!"

Ich gehe zurück zu Kjer und Ela und erzähle ihnen von den großen Neuigkeiten. Daraufhin stoßen wir anstatt mit Sekt symbolisch mit unseren Tassen Kaffee an.
Als Ausgleich dazu, wie der gestrige Abend für mich ausgegangen ist, ist das doch ein ziemlich guter Start in den Tag.

Wenn der Schnee fälltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt