Kapitel 21

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Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen, um die Tränen wegzuwischen. Hier oben war es so friedlich. Die schweren Gewitterwolken lagen weit unter mir, ich blendete sie völlig aus. Ich schloss die Augen und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Sie färbte die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern rot. Die Wärme tat gut und ich musste lächeln. Hier oben war es eigentlich schrecklich kalt. Mir machte das zwar nichts aus, doch war es trotzdem schön, etwas Warmes zu fühlen.

Ich hörte und spürte einen Donner unter mir. Die Luft knisterte elektrisiert und ein Schauer durchlief meinen Körper. Ich wünschte ich könnte wie dem Gewitter der dunklen Seite meines Inneren entfliehen. Doch sie gehörte zu mir. Sie machte mich aus. Ich hatte sie immer akzeptiert. Ich hatte nie eine Wahl gehabt. Die hatte ich jetzt auch nicht, doch ich hatte angefangen, einen Teil von mir selbst zu verabscheuen. Das gelang mir nicht immer. Manchmal war sie zu mächtig und nahm mich vollständig ein. Ich hatte das Gefühl, auch in meinem Inneren herrschte ein Sturm. Ein Gewitter. Ich konnte nicht entscheiden, was ich war. Ich kämpfte ständig gegen mich selbst. Manchmal wusste ich nicht mehr, auf welcher Seite ich kämpfte. Manchmal gab es keine gegnerische Seite mehr, doch kämpfte ich trotzdem weiter. Manchmal kämpfte ich gegen meine dunkle Seite, manchmal gegen die Helle. Es war verwirrend und ich verstand es nicht. Ich verstand so viel nicht mehr in meinem Leben. Alles war so kompliziert geworden. Früher war es einfacher gewesen. Alles war einfacher gewesen. Ich hatte nie gegen mich selbst gekämpft. Niemals. Ich wusste immer was ich wollte. Nichts in meinem Inneren war anderer Meinung gewesen. Ich fühlte mich, als wären mehrere Personen, Persönlichkeiten in einem Körper eingesperrt. In meinem Körper. Und ich sollte jetzt mit ihnen klarkommen. Wie sollte ich das verkraften? Wie konnte ich das verkraften?

Als ich die Augen wieder öffnete, merkte ich, dass schon wieder Tränen meine Wangen hinunterflossen. Das Leben war kompliziert.

Der Rausch der Geschwindigkeit, der mich beim Laufen gepackt hatte, war verflogen. Das Adrenalin, dass mich durchströmt hatte, als ich flog, war verschwunden. Jetzt spürte ich den Schmerz in meiner Schulter wieder. Das war das einzig gute an dem Schmerzmittel gewesen: Ich hatte die Wunde nicht mehr gespürt. Als ich daran dachte und es realisierte traf der Schmerz mich mit voller Wucht. Es fühlte sich an, als hätte sich erneut eine Kugel in meine Schulter gebohrt. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Es war mir unerklärlich, dass ich den Schmerz bis jetzt nicht gespürt hatte. Die Euphorie muss wahre Wunder gewirkt haben. Meine Flügelschläge gerieten aus dem Takt und ich strauchelte. Ich musste so schnell wie möglich zurück auf die Erde. Mein Herz klopfte schnell. Mit meiner rechten Hand hielt ich den linken Arm fest, damit er nicht bewegt wurde. Immer mehr Blut strömte aus der Wunde. Warum war mir das bisher bloß nicht aufgefallen? In diesem Moment kam mir ein Gedanke. Hatte ich etwa die ganze Zeit schon so viel Blut verloren? Wahrscheinlich. Das bedeutete, dass ich beim Laufen eine Spur hinter mir gelegt hatte. Die Menschen mussten ihr nur folgen. Also musste ich von hier weg. In eine anderen Teil des Landes. Ich musste mir einen Überblick verschaffen. So oder so musste ich zurück auf die Erde. Je mehr ich mich bewegte desto schlimmer wurde der Schmerz in meiner Schulter. Als ich langsam tiefer flog konnte ich einen kurzen Aufschrei nicht unterdrücken. Als ich in die dunklen Wolken eintauchte wurde alles immer schlimmer. Ich konnte nichts sehen. Schmerz. Ab und zu blitzte es und ich konnte die rauchigen Wolken um mich herum erkennen. Schreien. Immer wieder donnerte es und es fühlte sich an, als würde die ganze Welt beben. Unerträgliche Qualen. Die Luft war elektrisiert und ich zitterte. Schmerzen. Was würde passieren, wenn ein Blitz mich treffen würde? Ich war geschockt, dass ich diesen Gedanken noch nicht früher gehabt hatte. Jetzt bekam ich Angst. Ich war nicht unverwundbar. Mit jedem Atemzug spürte ich diese Tatsache deutlicher. Urplötzlich explodierte kurz neben mir grelles Licht. Der Donner, der darauf folgte war lauter als alles was ich je gehört hatte. Ich hatte das Gefühl, mein Trommelfell würde zerreißen. Die Wucht des Blitzes schleuderte mich zur Seite und ich schrie laut auf. Diese Schmerzen. Es war einfach unerträglich. Vielleicht wäre es besser, wenn mich ein Blitz treffen würde und mich von dem Leid erlösen würde.

Als ich realisierte, dass ich das soeben gedacht hatte, erschrak ich. Wollte ich das wirklich? Wollte ich sterben? Ich horchte in mich hinein. Als Antwort blickten mich zwei blaue Augen zurück an. Ich könnte mich in diesen Augen verlieren. Da wurde mir klar, dass ich nicht sterben wollte. Ich klammerte mich an diesen Gedanken. Dieses Bild. Diese Augen.

TodesengelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt