Ich fing an zu schreien. Unkontrolliert stürzte ich vom Himmel. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Plötzlich flackerte meine Flügel wieder auf. Was? Warum...? Ich sah dass ich die Grenze zu den Sonnenstrahlen wieder überschritten hatte. Ich war weiter unten, näher an der Erde, wo die Sonne noch nicht aufgegangen war. Doch es konnte sich nur noch um Sekunden handeln. Ich floh vor der Sonne. Meine Flügel waren da, jedoch waren sie ziemlich instabil. Gerade als ich sie ausbreiten wollte, um meinen Sturzflug abzufangen, verschwanden sie schon wieder, als ich die Sonne auf meiner Haut spürte. Im nächsten Moment waren die wärmenden Sonnenstrahlen wieder verschwunden, meine Flügel blitzten wieder auf. Ich hatte Angst, furchtbare Angst. Ich war angeschossen worden; ich war verletzlich. Einen Sturz aus dieser Höhe würde ich vermutlich nicht überleben. Meine letzte Möglichkeit war das Meer. Ich wusste dass der Aufschlag hart sein würde, doch ich musste es versuchen. Es war meine einzige Chance.
Ich schwankte unsicher, als ich versuchte, mich mit meinen Flügeln in die richtige Richtung zu lenken. Tief durchatmen. Ruhe bewahren. Mein Herz schlug schnell.Ich schaffte es. Etwa 20 Meter unter mir war das Meer. Ich stellte die Flügel auf, um den Sturz abzufangen, als diese sich erneut auflösten. Ich spannte alle Muskeln an und richtete meine Füße nach unten. Die Sonne war endgültig über den Horizont gestiegen. Ehe ich mich darauf vorbereiten konnte, traf ich auf die Wasseroberfläche. Schmerz explodierte an meinen Fußsohlen, doch ich konnte es aushalten. Augenblicklich begann meine linke, angeschossene Schulter vor Schmerz zu stechen, doch auch das war schon schlimmer gewesen. Schnell war ich von Wasser umgeben. Es drückte sich an mich, umfing mich, umschloss mich. Gab mir Halt und Sicherheit. Es schlang sich um mich, ich spürte den Druck, den Wiederstand. Das gab mir das Gefühl, dass ich etwas hatte, dass mich davon abhalten würde, aus mir selbst herauszubrechen.
Das war natürlich Unsinn. Das Wasser, das Meer, würde mich nicht davon abhalten, jemandem Schaden zuzufügen.
Letztens erst war ich im Wasser gewesen, jetzt schon wieder. Als würde das Meer mich locken, mich anziehen, mich in seine riesigen, sanften Arme nehmen, mich mit sich ziehen. Mich mit sich in die unendlichen Tiefen des Ozeans ziehen.
Überall um mich herum waren Luftblasen. Sie waren wunderschön. Ich dachte daran wie ich früher, vor langer, langer Zeit, mit Seifenblasen gespielt hatte. Diese Erinnerung kam schlagartig, grub sich in meinen Kopf wie ein riesiger Dorn.
Ich lachte glücklich. Das Gras kitzelte unter meinen Füßen. Die Sonne schien auf mein Gesicht, die Strahlen wärmten meine Haut. Meine blonden, welligen Haare fielen über meine Schultern. Sie schienen zu strahlen wie die Sonne selbst. Hinter mir stand eine Frau, die glücklich auf mich hinabsah. Ich tauchte den Deckel der Seifenblasen in die Flüssigkeit und zog ihn hinaus. Dann blies ich durch den kleinen Kreis. Ich quietschte vergnügt, als die wundervollen, bunt schimmernden Blasen davonflogen. Ich sprang ihnen hinterher. Die ganze Zeit über konnte ich nicht aufhören zu lachen. Ich war glücklich. Als ich eine Seifenblase einholte, rief ich "Erwischt!!" und tat, als wolle ich sie mit beiden Händen fangen. Die Blase zerplatzte unter meinen Fingern.
Sie zerplatzte einfach. Sie zerplatzte. Plopp... Und war fort. Für immer. Hätte ich damals ahnen können, dass ich dieses Schicksal teilte? Dass auch meine reine Seele irgendwann zerplatzen würde? Plopp... Und war fort. Für immer. Sie war zerplatzt, zersprungen.
Ein Engel hatte das Böse in sich. Doch Engel waren davon abgeschirmt. Ihre Unterteilung in Gut und Böse war klar und eindeutig. Das Gute überwog und schloss das Böse in sich ein. Wie eine Seifenblase die Luft in ihr. Doch die dunkle Seite war da. Bei mir war die schützende Hülle zersprungen. Zerplatzt. Wie eine Blase. Jetzt war nur noch Schatten da, Finsternis. Seit 278 Jahren. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt.
Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu klären. Das hier war nicht der richtige Zeitpunkt.Ich musste zurück an Land. Mit bissiger Ironie dachte ich daran, dass es letztes mal genauso war. Ich war abgestürzt, wäre fast gestorben. Doch das Meer hatte mich gerettet.
Unter Schmerzen schwamm ich nach oben. Als mein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach erwartete ich fast, den selben Anblick der selbsen Klippen wie letztes mal zu haben. Doch ich sah nur die vertraute Küste meiner ehemaligen Heimat. Oder war es noch mein zu Hause? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, was die Zukunft bringen würde. Was würde geschehen, wenn ich ihm alles erzählen würde? Würde er mich hassen? Versuchen, mich zu töten? Wäre es ihm egal? Vermutlich nicht. Vorsichtig schwamm ich nach links zu dem Strand. Von dort aus führte nach wie vor ein Trampelpfad zu meinem Häuschen. Als ich aus dem Wasser stieg fühlte sich meine Haut trocken und gereizt an. Das viele Meeressalz in letzter Zeit war nicht gut gewesen.
Meine Füße brannten von dem Aufschlag, als ich kraftlos den Strand entlang ging. Ich kam zu dem Trampelpfad, der die Felsen hinaufführte. Fast so langsam wie ein Mensch stieg ich hinauf. Oben angekommen drehte ich mich um und sah aufs Meer hinaus. Weit und endlos lag es vor mir. Eine gewisse Art von Frieden legte sich über mich und ich dachte an gar nichts. Der Wirbelsturm aus Gefühlen, die Angst, der Krieg, alles war zur Ruhe gekommen. Das würde nicht lange so bleiben, doch ich genoss den Augenblick. In kleinen Wellen schlug das Meer ans Ufer, an den Strand, an die Klippe, an die spitzen Felsen im Wasser. Obwohl ich am liebsten noch stundenlang so dagestanden hätte, drehte ich mich wieder um und widmete mich dem Häuschen. Ich ging den schmucklosen Weg bis zur Tür. Vorsichtig stieß ich sie auf. Alles lag noch genau so da, wie ich es verlassen hatte. Langsam ging ich ins Bad und sah in den Spiegel. Ich erschrak, als ich mein Spiegelbild betrachtete. Mein Äußeres entsprach nicht im Entferntesten meiner inneren Verfassung. Dieses wunderschöne, kalte, gelassene Mädchen passte nicht zu dem Tornado, der mich unentwegt begleitete. Der in mir gefangen war. Der in mir wütete, als würde er hinausbrechen wollen, es jedoch nicht schaffte.
Ich griff zu meiner Bürste und fuhr grob durch meine nassen, verknoteten Haare. Es tat höllisch weh, doch ich kannte die Schmerzen und ich kannte die Hölle. Es könnte schlimmer sein. Ich zog mein Kleid aus, das ich so sehr liebte und stieg in die Dusche. Ich musste einfach dieses trockene Gefühl des Salzes abwaschen. Das heiße Wasser prasselte auf mich herab und ich spürte, wie sich nach und nach meine Muskeln entkrampften. Ich blieb länger als nötig unter dem Wasserstrahl stehen und genoss das entspannende Gefühl.
Als ich mich zu Ende geduscht hatte, stieg ich aus der Dusche und trocknete mich ab. Meine Haare föhnte ich kurz durch, bis sie ansatzweise trocken waren. Dann ging ich in mein Schlafzimmer. Ich sah das Bett und musste unwillkürlich grinsen. Wahrscheinlich würde niemand in meinem Haus ein Bett vermuten. Aber als ich hier eingezogen war, stand es schon dort. Manchmal habe ich mich sogar schon hineingelegt und die Augen geschlossen und mir vorgestellt, wie es wohl sein würde, einzuschlafen.
Jetzt fragte ich mich, ob es wohl wie sterben war. Sterben war friedlich. Losgelöst. Wie konnten die Menschen so normal leben, wenn sie doch so viel Zeit damit verbringen, bewusstlos herumzuliegen? Die Lebensspanne eines Menschen war sowieso schon nur so kurz.
Ich ging zu meinem Kleiderschrank und öffnete ihn. Nach kurzem überlegen griff ich nach einer Jeans, einem unauffälligen T-Shirt und einer Sweatshirtjacke. Obwohl es Herbst war, war es relativ warm. Mit der Kleidung ging ich zurück ins Bad und schlüpfte hinein. Ich betrachtete mich kritisch, dann griff ich nach einem Haargummi und band meine Haare zu einem Zopf zurück. Obwohl ich versuchte, normal und unspektakulär auszusehen, würde ich wieder alle Blicke auf mich ziehen. So war es immer.
Zweifel machten sich in mir breit. Was, wenn ich mich nicht beherrschen könnte? Oder er mich abweisen würde? Mein Verstand rief mir zu, nicht zu gehen. Wie könnte ich nur darauf hören? Ich hatte keine Wahl. Er zog mich zu sich. Ich hatte keine Wahl.
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Todesengel
Fantasy"Tell them what I hoped would be impossible" ~James Arthur Ich sah in diese erschrocken aufgerissenen Augen. Hörte das schnelle, unkontrollierte Schlagen seines Herzen. 'Na komm, lauf schon weg! Ich brauche ein bisschen mehr Action!', dachte ich bei...