Kapitel 6

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Die Sonne war schon längst aufgegangen, als ich endlich aufhörte zu rennen. Ich sah mich um. Vor mir lag eine Küste. Meiner Schätzung nach müsste es die Ostküste Irlands sein. Ich hatte Irland einmal  durchquert. Zitternd ließ ich mich auf einem Felsen nieder. Ich zog die Beine an meinen Körper und umschlang sie mit den Armen. Dann vergrub ich mein Gesicht hinter meinen Knien. In mir tobte ein Orkan. Er verschluckte alles, sogar meinen Appetit. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Der Orkan bestand aus einer Mischung aus Zuneigung, Verwirrung und Trauer. Zuneigung zu dem unbekannten Jungen, der der erste Mensch war, den ich nicht getötet hatte, obwohl ich auf der Jagd war. Verwirrung wegen der heftigen Gefühle, die ein Gedanke an ihn in mir auslöste. Und Trauer, weil ich wusste, dass ich ihn nicht wiedersehen dürfte. Oder mit ihm sprechen dürfte. Ich durfte nichts mehr mit ihm zu tun haben, sonst würde das seinen Tod bedeuten. Sein Blut roch einfach zu köstlich. Wie würde ich dem jemals widerstehen können? Außerdem wusste ich nicht einmal, ob ich ihm überhaupt irgendetwas bedeutete.

Schweigend saß ich da, immer noch mit angezogenen Knien und gebeugtem Kopf, während ich versuchte, das Gewirr in meinem Kopf zu entknoten. Meine langen, schwarz-braunen Haare fielen über meinen Kopf und gaben mir so einen Schleier, der die Außenwelt abschirmte.  Es war wie eine kleine Höhle, ein Schutz vor der Realität.

Egal wie oft ich die Tatsachen durchging und egal welchem Gedankenweg ich nachging, es kam immer auf dasselbe hinaus. Ich wusste es und ich konnte mir unmöglich etwas vormachen, welchen Sinn hätte es auch gemacht? Ich hatte meine Spezies, die Todesengel, immer als emotionslose, kaltblütige Monster gesehen. Ich hatte noch nie tiefere Gefühle außer Hass und Zorn für jemanden empfunden. Selbst bei Mandy empfand ich es nur als oberflächliche Freundschaft, da sie nur so wenig über mich wusste. Aber jetzt wusste ich, dass es auch anders sein konnte. Immer wenn ich an diese unendlichen, wundervollen, reinen Augen denke, beginnt mein Herz schneller zu schlagen und es fühlt sich an als flatterten 1.000 Schmetterlinge in meinem Bauch. Ich hatte mich verliebt.

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