Kapitel 28

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Nein, nein, nein!!
Das durfte nicht sein!!!
Ich kämpfte. Ich kämpfte, mit mir selbst. Mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Ich war blind vor Durst, mein Körper wollte nur noch sein Blut. Wie kann man gegen etwas kämpfen, das man will? Wie kann ich gegen mich selbst gewinnen? Ich schaffte es mit unendlich starker Willenskraft, meine Arme um einen Baum zu schlingen. Ich umklammerte schmerzhaft meine Hände. Ich musste hier weg! Genau das war der Grund, warum ich gegangen war, oder?
Ich konnte mir über ein warum grade keine Gedanken machen. Ich war gespalten. In zwei Hälften. In mir tobte ein Krieg, während ich dastand und einen Baum umarmte.
Ich musste meine ganze Konzentration aufwenden, meine Finger verschränkt zu halten. Nicht loslassen. Bloß nicht loslassen. Alles, nur nicht loslassen. Ich hörte ein unheilvolles Knacken. Es kanckte wieder. Das Knacken verwandelte sich schnell in ein Krachen. Bevor ich richtig realisierte, was passierte, begann der Baum, den ich umklammert hielt, zu schwanken. Ein reißendes Krachen bestätigte meine Vermutung. Der Stamm brach unter meinen Fingern. Der Baum kippte. Und fiel. Ich musste loslassen. Zur Seite springen. Sonst würde ich sterben. Er würde auf mir landen. Das wäre gut. Ich sollte sterben, ich wollte sterben. Doch meine dunkle, durstige Seite setzte sich durch. Ich kam nicht dagegen an. Meine Überlebensinstinkte siegten, ich löste meine Finger voneinander. Sofort begannen meine Beine zu rennen.
Ich fühlte mich, wie ein Verhungernder. Ich stehe in einem Raum und halte mich an einer Stange fest. In meiner Nähe steht ein Tisch, mit einem Teller voll köstlicher Speisen. Doch ich erreiche ihn nicht. Würde ich die Stange loslassen, könnte ich zum Essen gelangen.
Die Stange war meine Vernunft. Mein klar denkendes Ich. Ich musste darum kämpfen, nicht loszulassen, obwohl ich selbst es nicht wollte. Ich bin zerrissen. Doch meine dunkle Seite war einfach stärker.
Wenn das überhaupt noch möglich war, wurde der Geruch immer intensiver. Es fühlte sich an, als würde ich durchdrehen. Fast hätte ich die Stange losgelassen. Einzig meine Fingerspitzen hielten mich noch. Ich wollte stehenbleiben. Die Richtung ändern. Ich wollte weiterrennen. Wollte meinen Durst stillen. Die Bäume lichteten sich.
In diesem Moment war es, als würden mir die Augen geöffnet werden. Natürlich! Endlich konnte ich mir dieses seltsame, falsche Gefühl von eben erklären. Warum war mir das nicht längst aufgefallen?? Das Gefühl bedeutete Wiedererkennung. Ich kannte diesen Wald, diese Gegend, dieses Land. Es war der Teil des Landes, vor dem ich geflohen war. Es war mein zu Hause. Ich war im Meer einmal um die Südspitze Irlands herumgeschwommen. Ohne es zu bemerken. Und nun war ich wieder hier.
Kurz hatten mich diese Gedanken ablenken können und ich war langsamer geworden. Doch wieder hatte ich keine Chance mehr.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit rannte ich auf eine Lichtung zu. Zwischen den Bäumen hindurch konnte ich eine Gestalt erkennen, die auf der Lichtung stand. Es war dieselbe Lichtung, auf der ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
Er zog mich an wie ein Magnet. Es fühlte sich an, als wären alle Zellen meines Körpers an meine Vorderseite gezogen worden, voller Erwartung, endlich bei ihm zu sein. Ein unbeschreibliches Verlagen, zusamen mit ungebändigter Vorfreude floss durch meine Adern.
Ich machte mir keine Mühe, leise zu sein. Noch ungefähr 15 Meter trennten mich von ihm. Erschrocken fuhr er herum und sah mich an. Ich sah in seine Augen.
In diesem Moment fühlte es sich an, als wäre mein Herz vollkommen. Als wären zwei Puzzelteile zusammengefügt. Ich fühlte mich ganz, nicht mehr zerrissen. In seinen Augen sah ich alles, was mich vor dem Tod gerettet hatte. Alles, was ich jemals gewollt hatte.
In seinen Augen sah ich Schrecken, Verwunderung, Angst und... unglaubliche Freude. Das verwirrte mich. Diese Sekundenbruchteile, die wir uns in die Augen sahen, kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Ich könnte stunden-, tage-, jahrelang nur dastehen und in seinen Augen versinken. Das Blau verschlung mich, entwaffnete mich, ließ mein Herz schneller schlagen. Ließ ein wohligen Schauer durch meinen Körper wandern.
Ungebremst rannte ich in ihn hinein. Ohne meinen Blick von seinen Augen lösen zu können, fielen wir zusammen um. Seine Augen blitzten überrascht. Spürte er die Gefahr nicht? Warum wehrte er sich nicht? Das alles war so schnell gegangen, dass er nichtmal ein einziges Wort sagen konnte. Wir lagen auf dem Waldboden, unsere Nasenspitzen berührten sich beinah. Mein Herz schlug schnell, viel zu schnell. Ich musste ihm in die Augen sehen. Nur so konnte ich das Monster in meinem inneren einigermaßen zurückhalten. Nichts anderes war stark genug dafür.
"Wo warst du?"
Diese Frage schleuderte mich völlig aus der Bahn. Ich hatte seine Stimme gehört, sie war wunderschön. Es war eine Stimme, der man stundenlang zuhören könnte.
Doch mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Ich hätte mir so viele Dinge vorstellenn können, die er sagen würde. Doch mit seinem Atem war ein neuer, intensiver Schub seines Duftes zu mir herübergeweht. Mein Inneres spielte völlig verrückt. Ich fühlte mich, als würde ich platzen. Als wären zwei Personen in einen Körper vereint. Zwei Personen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und sie hatten zu wenig Platz.
Ehe ich etwas dagegen tun konnte, hatte meine dunkle Seite die Oberhand gewonnen. Ich senkte den Kopf an seinen Hals und spürte unter meinen Zähnen seine warme Haut. Das schnelle Schlagen seines Herzens.
Stopp!!! Was tat ich da?? Mit letzter Kraft zog ich meinen Kopf zurück. Ich sah in seine erschrockenen Augen. Aus ihnen, ihrem wunderschönen Blau schöpfte ich Kraft. Mit meiner ganzen Willenskraft stand ich auf und ging langsam rückwärts zurück zum Waldrand.
Er richtete sich auf. "Halt, warte! Bitte geh nicht. Ich hab' auf dich gewartet, jeden Tag. Ich will dich nicht verlieren!"
Mein Herz machte einen übermütigen Hüpfer. Er hatte auf mich gewartet...? Er hatte mich nicht vergessen?
Ich spürte einen Druck in meinem Körper. Von innen presste er sich gegen mich, dehnte sich aus. Erschrocken hielt ich inne. Seit wann hatte ich nichts mehr getrunken? Fast ein Woche. Der unangenehme Druck war die Trance, ganz ohne Zweifel. Ich durfte nicht zulassen, dass sie meinen Körper übernimmt.
Ich sah ihn noch ein mal an.
"Halt dich fern von mir."

TodesengelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt