10. Kapitel

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10. Kapitel

Momente. Der Moment, als ich hinfiel einfach aufstand und weiterging, weil mir im Grunde nichts wehtat. Der Moment in dem ich realisierte, dass Anna tot war. Der Moment als ich zum ersten Mal Auto fuhr. Der Moment als meine Mum mir erzählte, dass sie nicht war von der ich glaubte das sie es war. Der Moment in dem ich zum zweiten Mal am Grab einer meiner Geschwister stand und mein Herz sich so schwer anfühlte, als würde es mit dem Sarg hinab in die Erde gelassen werden. Der Moment in dem ich bemerkte, wie viel Hanna mir bedeutete. Der Moment, in dem ich etwas wieder bekam und doch alles verlor.

Der Moment, in dem ich anfing auf Leo zuzugehen um mit ihm unsere gemeinsamen Erinnerungen zu teilen.

Momente sind kurze Augenblicke unseres Lebens. Momentaufnahmen einer Zeit, die uns für immer im Gedächtnis bleibt. Ganz gleich ob sie gut oder schlecht waren. Selbst ganz alltägliche Dinge, wie der Einfall des Sonnenlichts durch die Blätter eines Baumes an einem warmen Sommertag, an dem man im Gras liegt und vollkommen ruhig und glücklich ist. Oder außergewöhnliche wie die Entscheidung etwas zu tun, von dem man nicht weiß ob man überhaupt dazu in der Lage ist.

„Es tut mir Leid, ich wollte dir keine Angst machen", sagte Leo und wollte mir die Zeichnung aus der Hand nehmen, doch ich ließ ihn nicht.

Ich hielt sie weiter in meinen Händen, betrachtete die Details und schaute ihn dann an.

„Das hast du nicht. Ich bin nur ... überwältigt", erklärte ich, warf noch einen letzten Blick auf mein eigenes Gesicht und faltete das Blatt zusammen, ehe ich es ihm endlich zurückgab.

„Die Tatsache, dass du alles vergessen hast, dein Unterbewusstsein aber mein Abbild in deine Träume projiziert hat ist erstaunlich", meinte ich und klang wie eine Medizinerin.

Ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen. Natürlich dachte ich mir einen Grund, warum er von mir geträumt hatte, aber den konnte ich ihm nicht verraten. Nicht wirklich.

„Schätze du warst mir sehr wichtig", murmelte er gedankenverloren.

Die Tatsache dass er in der Vergangenheitsform sprach, verletzte mich aber mir war auch klar, dass er für einen fremden Menschen keine Gefühle haben konnte. Für ihn war es, als würde er mich vollkommen neu kennen lernen, während ich auf die Erinnerung eines ganzen gemeinsamen Lebens zurückgreifen konnte. Blieb nur die Frage was schlimmer war.

„Ich denke schon. Wir standen uns nahe, haben viel erlebt. Das reißt einen entweder auseinander oder bringt einen dem Anderen näher", antwortete ich ihm, bemüht keine Träne zu vergießen.

Wir gingen ein Stück schweigend den Weg entlang, hingen unseren eigenen Gedanken nach. Leo schien tief in sich versunken zu sein, während ich beobachtete, wie das Licht der Sonne durch die Blätter der Bäume brach und über den Boden tanzte. Als Kind hatte ich manchmal stundenlang im Gras gesessen und dabei zugesehen. Ich dachte mir Geschichten darüber aus, was das tanzende Licht alles sein könnte. Vielleicht waren es Feen, vielleicht etwas von dem die Menschen noch nie gehört hatten. Heute war mir klar, dass es bloß Licht war, aber es änderte nichts daran, dass es schön mit anzusehen war.

„Würdest du ... würdest du mir sagen, weshalb du dich mit unseren Eltern nicht so recht verstehst? Das heißt viel mehr mit unserer Mum, als mit Dad?", unterbrach Leo irgendwann unser schweigendes Beisammensein.

„Warum denkst du das?", fragte ich ihn.

„Der Blick, welchen ihr euch zugeworfen habt, als du bereit warst mit mir zu sprechen ... er war ... seltsam", bemerkte er und blieb stehen.

Schmunzelnd sah ich ihn an, hielt mir jedoch dabei eine Hand über die Augen, da die Sonne direkt über ihm stand und mich blendete.

„Das ist eine lange Geschichte", erwiderte ich nur.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt