21. Kapitel

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21. Kapitel

Ich konnte kaum glauben worum er mich bat. Vielleicht kann ich es noch immer nicht glauben. Nie hätte ich damit gerechnet. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Ich tat ihm den Gefallen, aber nicht weil ich dachte dass es eine gute Idee war. Oder weil ich davon überzeugt war, dass er nie wieder mit mir sprechen würde, wenn ich es nicht tat. Ich tat es weil ich inständig hoffte, dass es das Richtige war. Trotzdem zweifelte ich jede Sekunde daran. Jeden Moment der Fahrt, dem Fußmarsch bis zur richtigen Stelle. Jeden Atemzug und jeden Herzschlag den ich tat zweifelte ich an dem was vor uns lag. An dem Resultat dass daraus hervorkommen würde. Und letzten Endes ... letzten Endes lag ich vielleicht sogar richtig mit all meinen Zweifeln und Befürchtungen. Aber woher ich das mit Gewissheit sagen sollte? Keine Ahnung, denn ich erfuhr nie was er in jenem Augenblick wirklich sah. Was wirklich vor seinem inneren Auge auftauchte und ihn Nächte lang verfolgen sollte.

2. Treffen und dritte Wahrheit

„Also, was möchtest du wissen?", erkundigte ich mich, sobald unsere Tassen geleert waren und wir auf dem Weg ins Wohnzimmer waren.
Leo schien ernsthaft darüber nachzudenken, obwohl ich bezweifelte, das er seit unserer letzten Begegnung dies bezüglich nicht bereits hunderte weitere Fragen in seinem Kopf schwirren hatte. Unvermittelt blieb er stehen. Verwundert tat ich es ihm gleich und blickte zu ihm auf.

„Was?"

„Kannst du es mir zeigen?", fragte er leise.

„Kann ich dir was zeigen Leo?", hakte ich nach und hob misstrauisch eine Augenbraue.

Ich wusste nicht warum, aber ich ahnte bereits das Schlimmste.

„Mein ... mein Grab."

Perplex starrte ich ihn an. Ich hatte mit viel gerechnet, sogar damit ihm das von Anna zu zeigen aber dass ... dass war eine vollkommen andere Sache.

„Hast du den Verstand verloren?!", brüllte ich ihn entrüstet an.

Ich war so unsagbar wütend wie schon lange nicht mehr. Vielleicht sogar seit unserem letzten Streit vor seiner Abreise damals. Niemand außer ihm konnte mich derart auf die Palme bringen wie Leo. Wie konnte er mich um so etwas bitten? War er denn noch ganz bei Trost? Wer will denn bitte seinen eigenen Grabstein sehen? Das war ja total krank!

Erschrocken zuckte er zusammen während ich aus der Haut fuhr und ihn fassungslos anstarrte. Scheinbar war ihm nicht klar warum ich so entrüstet war.

„Du willst allen ernstes, dass ich dich auf den FRIEDHOF bringe? Zu DEINEM Grab? Hast du sie noch alle? Du bist am Leben. Bloß weil ich noch keine Zeit hatte den Stein entfernen zu lassen und das Grab zu räumen, heißt das noch lange nicht, dass ... ich fass es nicht!", probte ich weiter den Aufstand und funkelte ihn bitterböse an.

„Es ist nur ...", setzte er an, aber ich ließ es ihn gar nicht erst versuchen.

„Nein. NEIN! Kommt gar nicht in Frage. Du bist ja vollkommen verrückt!"

Frustriert stapfte ich davon, allerdings nicht ins Wohnzimmer, sondern hinaus in den Garten hinterm Haus. Dort angekommen, stützte ich die Hände in die Hüften und legte den Kopf in den Nacken um tief durchzuatmen.

„Wie kann man nur derart bescheuert sein?", murmelte ich zu mir selbst.

Ich verstand wirklich nicht, wie er auf eine solche Idee kam. Warum sollte er dorthin wollen? Tja, hätte ich ihn ausreden lassen, wüsste ich es jetzt vielleicht, überlegte ich und schüttelte dabei den Kopf. Ganz gleich was für Gründe er hatte. Es war und blieb ein dummer Einfall.

„Wovor hast du solche Angst?"

Erschrocken fuhr ich herum und starrte Leo an. Ich hatte Angst? ... Ich hatte Angst. Nicht davor was er sehen würde, oder dem was LEO empfinden würde. Nein es ging einzig und allein um mich dabei. Ich hatte panische Angst davor zurück zu seinem Grab zu gehen. Mir war klar dass er wieder da war. Aber irgendwie war er es nun mal nicht. Für ihn mochte es keine Bedeutung haben auf ein leeres Grab zu starren, aber für mich hatte es das. Für mich lag dort mein Bruder. Körper im Sarg hin oder her. Er war gestorben. Mein Bruder war im Irak gestorben und nie zurückgekehrt. Natürlich hatte ich bislang keinerlei Gedanken daran verschwendet, dass ich es entfernen lassen musste. Aber wollte ich das überhaupt? Es war Leo's Grab und würde es bleiben. Ich hatte ihn begraben. Denn mein Bruder war nie zu mir zurückgekommen, nachdem er damals zur Tür rausgegangen war.

„Ich hab Angst vor dem was es bedeutet, wenn ich dich dorthin mitnehme", flüsterte ich mehr mir selbst als ihm zu.

„Dann ... dann frag ich unsere Eltern ob sie mit mir ...", setzte er an einzulenken, aber auch dieses Mal ließ ich Leo nicht allzu weit kommen.

„Nein. Nein. Ist schon okay. Komm, lass uns gehen", sagte ich uns fuhr mir dabei übers Gesicht, weil sich schon wieder einzelne Tränen darauf gestohlen hatten.

„Bist du sicher?", hakte er nach.

„Jetzt komm schon, bevor ich es mir anders überlege", meinte ich nur und fuhr mir durch die Haare.

Wir durchquerten das Haus und Leo schloss hinter uns ab. Anschließend steuerten wir auf meinen/seinen Wagen zu. Es fühlte sich seltsam an auf der Fahrerseite platz zu nehmen, wenn es doch eigentlich sein Auto war. Vielleicht musste ich mich auch einfach von solchen Denkweisen verabschieden. Es gab kein sein mehr. Der Leo, der mir den Wagen überlassen hatte, lag sechs Fuß unter der Erde. Also war es wohl endgültig MEIN Auto, ob es mir nun gefiel oder nicht.

„Darfst du eigentlich fahren?", fragte ich während ich losfuhr und in gemütlichem Tempo uns auf den richtigen Highway brachte.

„Angeblich ja. Aber um ehrlich zu sein möchte ich diese Theorie augenblicklich noch nicht testen. Außerdem hab ich ja ohnehin kein Auto wie es mir scheint."

Sacht nickend starrte ich auf eine rote Ampel. Ganz genau. Er hatte keinen Wagen. Und vermutlich sollte er mit dem offensichtlichen posttraumatischen Stresssyndrom, dass er mitgebracht hatte wie ein leidiges Gepäckstück dass man gerne verlieren wollte aber nie loswurde, kein Fahrzeug besteigen um es selbst zu bedienen. Ob es sich nun um einen Kleinwagen oder ein Rasenmäher handelte, war dabei ganz egal.

„Weißt du noch wie man fährt?", fragte ich interessiert.

„Schätze schon. Wie gesagt, auf eine Testfahrt verzichte ich lieber", erwiderte Leo Schulter zuckend.

„Vermutlich eine kluge Entscheidung", nicht so wie manch andere, fügte ich in Gedanken noch hinzu.

Als hätte er erraten was in mir vorging sagte er:

„Du hättest wirklich nicht mit mir hinfahren müssen. Irgendwer hätte sich schon dazu bereit erklärt. Sonst hätte ich mir ein Taxi oder sonst was genommen."

„1. von welchem Geld? 2. du weißt überhaupt nicht auf welchem Friedhof du ... ES liegt. Und 3. würde ich gerne sehen wie du Eleonora davon überzeugen willst dich dorthin zu bringen", listete ich sämtliche Gründe auf, welche so was von dagegen sprachen, dass ihn irgendjemand außer mir dort abliefern konnte wo er hinwollte.

„Hmmm, da hast du vermutlich recht. Nicht besonders erstrebenswert wenn man sich nicht mal an die Pinnummer der eigenen Kreditkarte erinnern kann", scherzte er doch tatsächlich und für einen winzigen Augenblick fühlte es sich fast wie früher an.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt