5. Kapitel
Das Leben ist hart. Es wird einem so gut wie nichts geschenkt, meist nicht einmal geliehen. Weder Geld, noch Glück oder Liebe. Umso wertvoller ist eine Freundschaft. Häufig ist es bloß eine Leihgabe. Etwas das man sich verdient und irgendwann wieder verliert. Aber ich hatte das Glück eine Freundin zu haben, die mir beistand ganz gleich was geschah, ich sagte oder tat. Nicht selten war sie mein einziger Halt. Ein Fels in der Brandung meines Lebens. Auch während meines Leidens wegen meinem Bruder, wich sie nicht von meiner Seite.
„Er hat dich gebeten ihm zu helfen und du hast abgelehnt? Warum?", fragte Hanna entsetzt und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Verärgert über ihre Reaktion, obwohl sie nur allzu verständlich war, sprang ich auf und lief in Richtung Meer. Natürlich hatte sie irgendwo Recht. Als Außenstehender, der nicht in meiner Haut steckte, wie sollte sie da verstehen, dass jedes Wort was ich mit Leo wechselte einer Lüge gleichkommen würde? Allein das Wort Bruder war eine. Es lag nicht in meiner Natur ihn anzulügen. Es tat weh, würde mich plagen und bis in meine finstersten Träume verfolgen.
„Weil ich ihm das unmöglich antun kann. Ebenso wenig wie mir selbst."
Meine beste Freundin kam mir hinterher, stellte mich am Rande des Strandes.
„Das versteh ich nicht. Was kann denn so furchtbar sein, dass du es ihm nicht sagen willst?"
Trocken lachte ich auf und dachte dabei an all die Dinge die er und ich solange hatten verbergen wollen. Vor der Welt, voreinander, ganz gleich vor wem oder was. Weder Leo noch ich waren jemals vollständig ehrlich gewesen. Wie sollte ich es fertig bringen das hinter mir zu lassen und ihm alles zu sagen, von dem ich wusste, obwohl er es mir nie gesagt hatte. Die ich herausgefunden hatte über ihn, mich, unsere ganze kaputte Familie.
„Wo soll ich da anfangen? Bei der Tatsache, dass wir nicht einmal verwandt sind? Das seine Schwester meine Mum ist? Das er nicht das Kind meiner Großeltern ist? Das ich mehrfach beinah gestorben bin und aus lauter Trauer um ihn wirklich starb?", begann ich aufzulisten, ohne darüber nachzudenken, was ich da eigentlich sagte.
„Moment was? Du bist gestorben? Wann, wie ... ich meine... du stehst doch vor mir", stammelte Hanna.
Innerlich die schlimmsten Flüche ausstoßend über meine eigene Dummheit, schaute ich in ihr verschrecktes Gesicht.
„Das ist ... das ist kompliziert", versuchte ich mich rauszureden, doch der Blick in ihren Augen, duldete keine Ausflüchte.
„Das war ... das war als ich ins Krankenhaus kam. Mein Herz stand für über eine Minute still. Später hatte ich einen erneuten Herzanfall, ich war nur kurz weg, aber es hat genügt", erzählte ich ihr.
„Warum? Warum ist dein Herz stehen geblieben?", fragte sie voller Angst.
„Weil ich krank bin Hanna. Ich habe denselben Herzfehler wie Anna", erklärte ich ihr ruhig und griff nach einer ihrer Hände.
Tränen sammelten sich in ihren Augen. Ich spürte ihre Enttäuschung, darüber das ich ihr nicht schon längst davon erzählt hatte, doch es war nicht das Einzige was sie empfand. Sie empfand Scham, auch wenn ich nicht verstand warum.
„Was hast du?", fragte ich sie vorsichtig.
„Warum ... ich meine wieso hast du mir das damals nicht erzählt? Ich wäre doch zu dir gekommen."
„Du hasst Krankenhäuser. Das habe ich nicht übers Herz gebracht", sagte ich liebevoll und erinnerte mich dabei an den Grund dafür.
Wenn die eigene Mutter in einem solchen Kasten stirbt, kann niemand erwarten, dass man wieder in einen geht. Wie hätte ich von meiner Freundin verlangen können, dass sie ihre Abscheu für mich überwindet und Stunde um Stunde an einem Krankenhausbett verbringt, so wie sie es damals getan hatte? Nachdem ihre Mum gestorben war, hatte Hanna nie mehr eine Fuß in ein Krankenhaus gesetzt, nicht einmal als sie sich den Arm gebrochen hatte.
„Ja aber ... aber ich wäre gekommen", setzte sie erneut an.
„Das weiß ich doch. Es tut mir Leid, dass ich dich so lange im Unklaren gelassen habe", entschuldigte ich mich bei ihr.
Weinend fiel sie mir um den Hals, ihr Gesicht vergrub sie in meinen Haaren, umklammerte mich fest mit beiden Armen. Es kam mir vor wie eine kleine Ewigkeit, die wir dastanden und einander umarmten. Schließlich löste sie sich von mir, wischte sich übers Gesicht.
„Wirst du ... ich meine ... geht es dir gut?"
„Ja. Und nein, solange ich aufpasse, werde ich nicht sterben. Mein Kardiologe meint, dass wenn ich meine Medikamente nehme und regelmäßig meine Termine bei ihm wahrnehme, sollte es mir sehr lange sehr gut gehen", antwortete ich und schlenderte langsam zurück zum Haus.
„Und du willst ihm wirklich nicht helfen?", hakte Hanna nach, als wir wieder im Wohnzimmer standen und die Glasfront schlossen.
„Ich. Kann. Nicht. Das hat nichts mit wollen zutun. Es wäre Folter Hanna. Für ihn und für mich. Ich meine, welche Wahrheit soll ich ihm denn erzählen? Der mit der er aufgewachsen ist und in dessen Glauben er all seine Erinnerungen verloren hat, oder die die ich vor wenigen Monaten erst herausgefunden habe? Ich kann diese Entscheidung unmöglich für ihn treffen Hanna. Und er selbst kann es auch nicht tun. Also wie sollte ich ihm auch nur irgendetwas über ihn erzählen? Es wäre nicht richtig", versuchte ich ihr begreiflich zu machen, zweifelte jedoch daran, dass ich es konnte.
Es war eine Qual ihr nicht alles sagen zu können. Aber wenn ich es getan hätte, würde sie mich anders sehen. Als eine perverse Person, welche weder sich noch ihre Gefühle im Griff hatte. Und sie hätte Recht. Genauso hatte ich mich gesehen, bis ich Kyle begegnet war. Doch erst Alex hatte all meine Abscheu verschwinden lassen. Mit ihm fühlte ich mich vollständig. Gut. Sicher. Mit ihm fühlte ich mich geborgen, als könnte mir nichts geschehen, selbst wenn gerade die ganze Welt um mich herum in tausende kleine Stücke zerbrach, nur um mir anschließend um die Ohren zu fliegen.
Es hatte eine Zeit gegeben, da ich hatte ich mich nur so gefühlt, wenn Leo mich im Arm genommen, mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt, mir aber nicht die Lüge erzählt hatte, das alles wieder gut werden würde. Er hatte mich nur gehalten, die Welt um uns herum vergessen lassen.
„Es ist nicht okay, es ist nicht fair. Es ist das Leben Lilly. Wir können es nicht ändern. Menschen sterben, genauso wie sie leben. Es gehört dazu, auch wenn es uns nicht gefällt, uns betrübt und manchmal nicht mal mehr essen lässt. Aber du musst weiter essen. Du hast doch gestern auch gegessen. Warum dann nicht auch heute?", versuchte mein Bruder mich zu überreden meine Nudeln zu essen.
Aber ist starrte nur auf den Teller, schob das Essen darin von einer Ecke zur Anderen, fühlte noch immer die Leere in meinem Inneren die meine Schwester in meinem Herzen hinterlassen hatte. Sie war daraus verschwunden, ohne es mit etwas Neuem zu füllen. Da war nur ein Loch, so groß wie ein Krater, welcher sich langsam zu einem Sumpf entwickelte, welcher mich in seine Tiefen zog.
„Na gut", murmelte er, kam zu mir, hob mich hoch und nahm mich auf den Schoß.
„Wir probieren es später noch mal, in Ordnung?", murmelte er an meinem Haar und küsste mich auf den Scheitel.
Das alles gehörte seit Jahren der Vergangenheit an und es war gut so. So sollte es sein. Ich vermisste es nicht, noch trauerte ich dieser Zeit nach. Doch es rief Zwiespalt in mir hervor. Einerseits war ich froh darüber, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte, andererseits machte es mich traurig. Warum auch immer.
Es ist nicht die Trauer die einem das Herz schwer macht. Es ist die Unabänderbarkeit der Dinge. Die Tatsache, dass nichts besser oder schlimmer wird. Die Endgültigkeit der Fakten. So ist es mit dem Tod, mit einer Trennung, mit dem Abschied in jeder erdenklichen Form. Wir fühlen uns machtlos angesichts der Geschehnisse. Angesichts dessen, dass wir die die wir lieben nicht wieder bekommen, nur weil wir es uns wünschen, dafür streben oder alles dafür geben würden. Man kann das Schicksal nennen, oder Vorsehung. Ich nenne es Leben. Wir müssen nehmen was wir kriegen können. Wir können es akzeptieren und weiter machen wie bisher, oder wir werden wütend und versuchen alles, was wir können. Dennoch ... manche Dinge sind was sie sind und sie werden nicht besser, lassen sich nicht ändern, ganz gleich wie sauer wir auch werden und es versuchen. Tod bleibt Tod. Und Verloren bleibt verloren. Ganz gleich ob es sich um Menschen oder Erinnerungen handelt.
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My Brothers Keeper (TNM-#2)
RomanceIch erinnere mich nicht mehr an viel von damals, nur noch an das Gefühl, als sie mich zum ersten Mal in den Arm nahm, nach meiner Rückkehr. Es fühlte sich gut und richtig an. Vertraut. Warm. Ihr Gesicht war mit Tränen übersäht, doch etwas sagte mir...