8. Kapitel

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8. Kapitel

Es gibt da diesen furchtbar schrecklichen Spruch: Der Weg ist das Ziel. Ich habe keine Ahnung wer darauf gekommen ist, denn es ist absoluter Blödsinn. Wenn der Weg wirklich das Ziel ist, so wollte ich ihn nicht mehr gehen. Wenn meine Leben wirklich für immer so aussehen sollte, wollte ich es nicht. Wenn ich wirklich für immer in einem Kreislauf aus Lügen gefangen sein sollte, wollte ich es nicht. Wenn das wirklich alles war, was ich bekommen sollte, wollte ich es nicht.

Mein Weg war steinig, aber auch gut. Ich habe viel geweint, aber auch gelacht. Habe nachts wach gelegen oder Albträume gehabt. Ich hatte eine Schwester, eine Mutter, einen Vater und einen Bruder. Für eine Weile war alles gut. Bis die Realität an unsere Tür klopfte und uns zeigte, dass das Leben sich nicht austricksen lässt. An einem bestimmten Punkt kommt es und fordert einen dazu auf das Richtige zu tun, ob es einem nun gefällt oder nicht.

Mich noch müde windend, wachte ich auf und schaute mich blinzelnd um. Das Rauschen des Meeres drang durch die offenen Fenster an meine Ohren, der Geruch der See stieg mir in die Nase. Langsam drehte ich mich auf die Seite. Die Sonne fiel Alex ins Gesicht, aber es schien ihn nicht zu stören, er schlief einfach weiter. Sein blondes Haar wirkte golden, seine Haut heller als sie eigentlich war. Seine Atmung ging flach, was vermuten ließ, dass er noch träumte. Vielleicht war er auch einfach noch nicht bereit aufzuwachen. Was es auch war, er bot einen angenehm friedlichen Anblick, welchen ich eine Zeit lang beobachtete. Ich dachte daran, wie wir uns kennen gelernt hatten und wie viele Stunden wir uns genommen hatten, nur weil wir beide zu stur gewesen waren zu erkennen, wie sehr wir einander brauchten. Nach wie vor konnte ich nicht glauben, dass er mich wirklich liebte. Doch ich zweifelte nicht daran, dass er es tat. Jeden Tag aufs Neue zeigte er mir, dass er gerne in meiner Nähe war, mit mir sprach oder einfach nur gerne zuhörte was ich zu sagen hatte.

Als ich nicht länger widerstehen konnte, stützte ich mich auf den linken Unterarm und beugte mich über Alexanders Gesicht. Ich hob die rechte Hand, um seine Augen von der Sonne abzuschirmen, während ich ihn sanft auf die vollen Lippen küsste. Ein Kribbeln breitete sich auf meiner Haut aus, zog sich über meinen ganzen Körper, kaum das meine Haut die Seine berührte. Ob von der fehlenden Sonne oder von meinem Kuss, allmählich begann Alex sich zu regen und schlug irgendwann die strahlend grünen Augen auf.

„Morgen", flüsterte ich und lächelte ihn an.

„Morgen", antwortete er heiser.

Keine Ahnung warum, aber irgendwie klang es sehr sexy, wenn er am frühen Morgen mit mir sprach oder kurz davor war einzuschlafen.

Er sah mich eine Weile an, dann griff er nach meiner Hand, die noch immer die Sonne von ihm fernhielt und zog sie an seine Brust. Ich hörte auf mich auf den linken Arm zu stützen und schob ihn unter meinen Kopf. Alex strich liebevoll über meine Wange, kam meinem Gesicht immer näher, bis er schließlich über mir lehnte und mich küsste. Anfangs vorsichtig, als wollte er testen, ob ich es auch wirklich wollte, dass er mich berührte, dann wurde der Kuss tiefer und leidenschaftlicher. Er zog das Laken von mir, schob seinen Körper halb über mich, ohne mich dabei zu erdrücken. Ich drehte mich auf den Rücken, legte beide Hände um sein Gesicht, fuhr hinab zu seinen Schultern, schlang das linke Bein um seine Hüfte, um ihn näher an mich ran zu holen. Alex schob einen Arm unter meinen Oberkörper, drückte mich an sich, als hätte er Angst, ich könnte ihm entwischen. Seine freie Hand fuhr meine Hüfte herunter, folgte meinem Oberschenkel. Ein Keuchen entwich meiner Kehle, als er über die empfindliche Innenseite strich. Ich wollte mehr von ihm. Wollte ihn überall spüren. Doch noch ehe ich meinem Verlangen Ausdruck verleihen konnte, lösten sich seine Lippen einen Zentimeter von meinen.

„Wir müssen nicht ...", setzte er an, aber ich brachte ihn mit einem Finger auf seinem Mund zum Schweigen.

„Ich will dich. Immer", murmelte ich und zog ihn wieder an mich.

Ich konnte sein Lächeln spüren, sein eigenes Verlangen drückte an meine Hüfte. Er öffnete meinen BH, warf ihn auf den Boden neben dem Bett. Seine Lippen wanderten meinen Hals hinab zu meinen Brüsten, meinem Bauch, dem Rand meiner Unterhose. Meine Muskeln zuckte, ein angenehmes Gefühl breitete sich dort aus wo er mich berührte. Alles zog sich in mir zusammen, meine Gedanken verstummten und ließen mich wenigstens für eine Weile in Frieden. Es war ein perfekter Moment in einer unperfekten Zeit.

Der einzige Haken war, dass es nicht real war. Denn in der Realität wachte ich aus diesem Traum auf und sah mich um. Das Meeresrauschen drang tatsächlich an mein Ohr, doch die Sonne schien an diesem Morgen nicht. In den Klang der Brandung, mischte sich mit der des Regens, welcher gegen die Fensterfront prasselte und mein Haus so zum weinen brachte. Müde, doch lächelnd über meinen Traum, drehte ich mich zu Alex um, welcher bereits wach war und mich scheinbar beobachtet hatte. Mich nach seiner Nähe sehnend, rückte ich an ihn heran und bettete meinen Kopf auf seine nackte Brust. Er legte den Arm um mich und fuhr mir durch die langen Haare.

„Ich liebe dich", erinnerte er mich mit rauer Stimme an ein Gefühl, dass im Grunde nicht in Worte zufassen war.

Ich hob den Kopf, schob eine Hand unter mein Kinn, um es ihm nicht zwischen die Rippen zu bohren und strich ihm mit der Anderen durch die blonden Haare. Mein Blick folgte der Bewegung und landete schließlich in seinen Augen.

„Ich weiß", antwortete ich.

Eine ganze Weile lagen wir einfach nur da. Ich ließ mich von ihm halten, fühlte mich geborgen und wohl in meiner eigenen Haut. Ich konnte fühlen, dass Alex sich nach und nach immer mehr entspannte und genau wie ich die Stille genoss, welche an diesem Morgen noch herrschte. Doch irgendwann schlich sich Leo in meine Gedanken, gemeinsam mit der Entscheidung welche ich getroffen hatte. Zu meinem eigenen Bedauern musste ich feststellen, dass ich nicht damit leben konnte was ich getan hatte, so gerne ich auch dazu in der Lage gewesen wäre. Aber es wäre egoistisch gewesen. Etwas, von dem ich gerne behaupten würde, es nicht zu sein.

„Ich muss gehen", sagte ich nach über zwei Stunden des Friedens.

Kaum merklich kehrte die Anspannung in Alexander zurück. Er atmete tief durch, seufzte schon fast, als er antwortete:

„Ich weiß."

Obwohl es mittlerweile aufgehört hatte zu regnen und die Sonne heraus gekommen war, zitterte ich, als ich vor meinem alten Zuhause stand und überlegte, ob ich meinen Schlüssel benutzen sollte, um hinein zugehen oder lieber klingeln sollte. Gerade als ich klopfen wollte, wurde mir von drinnen die Tür geöffnet. Scheinbar verfügten meine Großeltern in letzter Zeit über ein automatisches Türöffnersystem. Jedenfalls kam es mir so vor.

„Lilly", erklang seine Stimme und versetzte mir einen Stich ins Herz.

Es war nicht das Fremde darin, sondern die Erleichterung, welche ich darin hörte, die wehtat.

„Hallo", erwiderte ich und schaute ihn unverwandt an.

Und das war es dann auch schon. Keiner wusste, was er sagen oder wie er sich verhalten sollte. Also standen wir nur da und sahen einander an, bis mein Verstand wieder einsetzte.

„Können wir ein Stück gehen?", bat ich ihn.

Nickend zog er die Tür hinter sich zu und folgte mir. Schweigend gingen wir den Gehweg entlang. Ich hatte nicht vor ihm auf offener Straße zu sagen, was ich zu sagen hatte. So lotste ich ihn zu dem Park, in dem ich Alex zum zweiten Mal überhaupt getroffen hatte und so viele glückliche wie auch schmerzliche Momente verbracht hatte. Als wir beim Brunnen waren, drehte ich mich zu Leo um und schaute ihn an. Mein Entschluss stand fest: Ich musste etwas für ihn tun, auch wenn ich es nicht wollte. Aber das bedeutete nicht, dass es mir leicht fiel. Obwohl es das tun sollte. Das Richtige zutun, sollte einem nicht schwer fallen. Niemals. Und doch tat es das.

Ich atmete tief durch, bevor ich ihn fest ansah und aussprach, was ich schon hatte sagen sollen, als er mich um Hilfe gebeten hatte.

Ob man das Richtige tut, kann man im Grunde nie wissen. Wir können nicht einmal erahnen, was wir mit unseren Entscheidungen möglicherweise anrichten. Dennoch treffen wir sie. Denn täten wir es nicht, kämen wir nie voran in unserem Leben. Manchmal heißt eine Entscheidung zu treffen einen Schritt zurück zu machen. Aber das macht nichts. Schließlich kann es ja nicht immer nur vorwärts gehen, richtig?

My Brothers Keeper (TNM-#2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt