6. April

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Unschuldig sah ich ihn an, als er aufstand und mir die Hand reichte.

„Jasper Jenkins. Es ist mir eine Freude, sie kennenzulernen.“ sagte er so übertrieben hochgestochen, dass ich mir nur mit Mühe das Lachen verkneifen konnte und mit heiserer Stimme einfach nur ein „Hi“ herausbrachte.

„Also wirklich“ rief er empört, „sind sie sicher, dass alles, was sie dazu zu sagen haben, ein simples, langweiliges hi ist?“

Nun konnte ich mich wirklich nicht mehr zurück halten, ich fing einfach an zu lachen, während er mich gespielt böse anschaute, die Hand immer noch nach mir ausgestreckt.

„Was soll ich denn sonst sagen?“ fragte ich, als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte.

„Wie wäre es zum Beispiel mit dem Namen?“

„Ich könnte dir tausend Gründe aufzählen, die dagegen sprechen.“

Er schien es zu verstehen, aber trotzdem dachte er weiter über etwas nach. Dabei müsste ihm doch eigentlich klar sein, dass man seinen Namen nicht überall in der Gegend herumerzählt, wenn man sein Geld mit Diebstählen beschafft und ich wollte gar nicht wissen, was sein Job war, wenn er wirklich so viel Kohle bekam, wie er angedeutet hatte. Besonders ich musste aber vorsichtig sein, denn mein Name war seit drei Jahren offiziell tot, genauso wie ich. Wenn er aber wieder irgendwo auftauchen sollte, würde sich das ändern, und ich hätte bestimmt eine polizeiliche Fahndung am Hals oder so. Nein danke, das konnte ich überhaupt nicht gebrauchen, es hatte schon seinen Grund, weshalb ich mir immer wieder andere Identitäten ausdachte.

„Okay, ist ja gut, aber was hältst du davon, wenn wir beide“ –er wedelte mit seinem Zeigefinger zwischen uns herum- „ausnahmsweise mal ehrlich zueinander sind? Zumindest nur für heute Abend, komm schon, keine Lügen und keine Geheimnisse!“

Er schaute mich an wie ein kleines Kind, das versucht, seine Eltern zu einem Disneylandbesuch zu überreden. Und ich musste zugeben, dass ich die Idee gar nicht mal so schlecht fand.

„Ist das jetzt dein Ernst?“

Er nickte eifrig, während ich ihn nur skeptisch betrachtete. Es brannte mir unter den Fingernägeln, ihn auszufragen und ehrliche Antworten zu bekommen, mehr über ihn zu erfahren. Er machte mich furchtbar neugierig, und der Gedanke, die nächsten Stunden mal nicht über jedes Wort, das mir über die Lippen kommt, nachzudenken, gefiel mir. Nur, weil ich gut darin war, Lügenkonstrukte um mich herum aufzubauen, hieß das nicht gleich, dass ich es gerne tat.

„Und woher soll ich wissen, dass du auch die Wahrheit sagst?“

„Das weißt du genau so wenig, wie ich weiß, dass du die Wahrheit sagst.“

Ich blickte ein paarmal zwischen seinen leuchtenden Augen und seiner Hand hin und her, dann ergriff ich sie.

„Marilyn. Ich heiße Marilyn. Aber nenn mich nicht so, dann reiß ich dir den Kopf ab. Einfach Mary oder May, letztendlich ist es mir egal wie du mich nennst.“

„Okay, geht doch. Aber was hast du gegen den Namen?“

„Meine Eltern haben mich nach Marilyn Monroe benannt. Weil sie wollten, dass ich genau so hübsch und berühmt werde wie sie, damit sie etwas haben, womit sie angeben können. Ein Vorzeigeobjekt. Andere Leute kaufen sich dafür ein protziges Auto oder eine große Villa, aber meine Eltern brauchen dafür ihre Kinder. Dabei wollte ich nie so sein wie Marilyn Monroe, irgend so ein dummes Sexsymbol.“

Überrascht von meinem plötzlichen Wutausbruch atmeten wir beide die angehaltene Luft wieder aus, ich schaute beschämt weg. Vielleicht sollte ich doch ein wenig darauf achten, was ich von mir gab.

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