Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es recht früh dafür, dass ich am Abend vorher noch so lange unterwegs war. Ich packte meinen kleinen Koffer und checkte aus, ehe das Frühstücksbuffet eröffnet war. Als ich das Hotel verließ, merkte man den Wintereinbruch an den Nebelschwaden in der Luft und den eisigen Temperaturen, die den Atem, den man ausstieß, in weiße Wölkchen verwandelten. Ich zog meine Jacke etwas enger zu, ging aber trotzdem zu Fuß weiter.
Schon bald kamen zaghafte Sonnenstrahlen zum Vorschein, die das Laub, welches unter meinen Füßen raschelte, bunt leuchten ließen.
Es dauerte eine Weile, bis ich näher ins Stadtinnere vorgedrungen war und endlich den Bahnhof erreichte, wo ich den Koffer in meinem Schließfach einschloss. Nur mit etwas Geld in der linken und dem Foto in der rechten Jackentasche nahm ich die nächste Bahn, die mich direkt in das Herz von New York bringen würde.
Es zog unheimlich stark in der großen Halle, während ich meine Hände aneinander rieb und wartete.
Eine Stunde und zwei Kilometer Fußmarsch später stand ich endlich vor dem kleinen Lokal, auf dessen verglaster Tür in weißen, großen Lettern „John's" geschrieben war. Ich genoss den warmen Luftschwall, der mir entgegen kam, als ich eintrat, und musste lächeln.
„Hallo, Marilyn!" rief Alex mir von der Theke aus zu, wo er damit beschäftigt war, Tassen und Gläser abzuspülen.
„Nenn mich nicht so, Alexandra" fuhr ich ihn an und spuckte das letzte Wort aus, als wäre es Gift. Er wusste genau, dass mich mein ganzer Name sofort aggressiv machte, also schlug ich mit eigenen Waffen zurück. Er mochte seinen richtigen Namen genau so wenig.
„Ist ja gut, sorry" gab er genervt zurück, aber ich ging wütend an ihm vorbei.
„Komm schon, jetzt sei nicht sauer. Ich mach dir auch einen Kaffee, okay?"
„Okay." gab ich mich geschlagen, denn einen Kaffee konnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Ich setzte mich an einen Ecktisch und fuhr mit den Fingerspitzen das Muster auf dem Stoffbezug der Bank nach, bis Alex sich mit zwei dampfenden Tassen dazusetzte und eine zu mir rüberschob.
„Miss Mallory hat gestern Abend hier angerufen. Sie meinte, sie würde heute Abend vorbeikommen und hofft, dass alles erledigt wäre."
Prüfend sah er mich an. Ihn interessierte es ebenfalls, ob alles geklappt hatte, die Neugier stand ihm praktisch ins Gesicht geschrieben.
„Sehr gut. Soll ich heute die Nachmittagsschicht übernehmen?"
Um mein Zimmer zu finanzieren, spielte ich hier Aushilfskellnerin. Es war ein praktischer Deal, sowohl für Alex als auch für mich; Er hatte jederzeit eine Aushilfskraft im Haus und ich hatte ein mehr oder weniger kostenloses Zimmer.
„Ähm... ne, die Mittagsschicht wäre besser. Jessica ist zurzeit krank und nachmittags ist eh kaum jemand hier" meinte er, und ich nickte als Antwort.
Zwei junge Männer kamen durch die Tür, und Alex stand auf, um sie zu bedienen. Ich tat es ihm gleich, ging hinter die Theke, schnappte mir den Schlüssel mit der Nummer 8 und lag nur wenige Sekunden später auf meinem Bett. Die Schuhe wurden achtlos weggekickt und die Jacke in Richtung Stuhl geworfen, wo sie an der Lehne hängen blieb und schließlich auf die Sitzfläche rutschte.
Nur fünf Minuten, sagte ich zu mir selber, als ich merkte, dass ich wohl doch ein Schlafdefizit von letzter Nacht hatte. Tatsächlich wachte ich aber erst zwei Stunden später auf. Genervt von mir selber sprang ich schnell unter die Dusche, ließ meine Haare noch nass unter einer hellbraunen Perücke verschwinden und schlüpfte in das Kellneroutfit, welches im John's aus einer orangen Bluse, Jeans und einer schwarzen Schürze bestand. Um Punkt zwölf stand ich vor Tisch Nummer vier und nahm die erste Bestellung auf.
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Invisible
Teen FictionMein Leben ist vielleicht nicht normal, aber es war immer okay. Mal ein bisschen langweilig, mal ein bisschen unfair, und eventuell sogar mal ein bisschen illegal - und dann, dann kam Jasper.