5. Warten sie auf jemanden?

67 7 4
                                    


Als ich ins John’s trat, bekam ich gleich einen besorgten, verwirrten Blick von Alex, der wie immer hinter der Theke stand und fleißig arbeitete. „Frag nicht“ winkte ich ab, bevor er überhaupt irgendwas sagen konnte. „Gib mir einfach einen heißen Erdbeertee.“

Normalerweise würde er an dieser Stelle grinsend sagen, dass ich mir auch selber einen machen könnte, ich würde die Augen verdrehen und anfangen, Wasser zu kochen. Aber ich sah wohl so schrecklich aus, dass er wortlos dampfendes Wasser in eine Tasse gab, einen Teebeutel hinein hängte und sie schließlich auf eine Untertasse stellte. Ich weiß nicht, ob er das aus Gewohnheit gemacht hat oder weil er dachte, dass ich das gebrauchen könnte, aber er legte noch einen Keks und ein Papierröllchen mit Zucker dazu. Dankbar lächelte ihn an, nahm die Tasse, schnappte mir meinen Schlüssel und ging in das Zimmer. Das Paket versteckte ich unter dem Bett, dann setzte ich mich auf die Matratze und beobachtete, wie sich das Wasser langsam rot färbte. Wie der Himmel beim Sonnenuntergang.

Ich musste an heute Abend denken, während ich den Zucker in die immer noch dampfende Flüssigkeit gab und umrührte. Einerseits hatte ich überhaupt keine Lust darauf, den Abend in diesem überteuerten Restaurant zu verbringen. Dort waren Menschen, zu viele für meinen Geschmack, und ich müsste vor ihnen einen wichtigen Tausch durchführen, ohne dass auch nur einer von ihnen das bemerkte. Außerdem war ich so kaputt, dass ich am liebsten das Bett an dem Tag nicht mehr verlassen und einen Harry-Potter-Marathon gemacht hätte.

Ich nahm meine dunkle, kurze Perücke vom Kopf, die nun strähnig und verknotet auf dem Fußboden landete, und nahm einen Schluck von dem Tee. Dann riss ich die Keksverpackung auf, betrachtete das Gebäck kurz und steckte es dann in meinen Mund.

Andererseits musste ich dort hin. Ohne das Geld könnte ich Matt nicht weiter am Leben halten, und dabei war doch gerade das der Grund, warum ich überhaupt noch am Leben war und versuchte, etwas zu verdienen. Außerdem musste ich zugeben, dass ich auch ein wenig Neugier verspürte. Ich wollte unbedingt diesen seltsamen, jungen Mann wiedersehen, etwas über ihn erfahren und mich von ihm nerven lassen. Ich nahm mir vor, ihn nach seinem Namen zu fragen, auch, wenn man in unserer Branche meistens eh nicht seinen richtigen verriet.  Ob er mich wieder berühren würde wie letztes Mal?

Als in der Tasse nur noch ein paar rote Überreste der Teeblätter waren, ging ich duschen. Ziemlich lange, aber ich brauchte das, um mich wirklich von all dem Dreck zu befreien, und irgendwie tat es mir auch verdammt gut, einfach nur unter dem heißen Wasser zu stehen. Zumindest ging es mir schon viel besser, als ich mich fröstelnd in das Handtuch wickelte und mir eine schwarze Bluse sowie eine Jeans aus dem Schrank holte. Ich zog mich an und überlegte, ob das im Dome als angemessene Kleidung galt, entschied mich aber für ja. Es wäre auffälliger, wenn ich einen Rock oder sogar ein Kleid tragen würde, und Jeans waren zwar nicht besonders edel, aber durch die elegante Bluse sah das ganze Outfit schon wieder viel hochwertiger aus. Mit dem richtigen Schmuck wäre es perfekt.

Ich ging wieder zurück ins Bad, kämmte meine Haare, die wie flüssiges Gold an meinem Kopf hinab bis über die Schultern liefen, und föhnte sie trocken. Dann versteckte ich sie unter einem Haarnetz, um eine meiner blonden Lieblingsperücken aufzusetzen, die mir in Wellen fast bis zur Hüfte reichte. Ich nahm von beiden Seiten vorne eine Strähne, führte sie am Kopf entlang und band sie hinten mit einem kleinen Gummi zusammen.

Als ich mein Make-Up-Täschchen öffnete, zögerte ich kurz. Die Perücke hatte ich extra nicht so gewählt wie gestern Abend, um anders auszusehen. Ich wollte unbedingt wissen, ob er mich wiedererkennen würde, auch, wenn sich mein Aussehen einmal komplett verändert. Leicht grinsend beschloss ich also, es nicht nur bei den Haaren und Klamotten zu belassen, sondern richtig aufzutrumpfen. Wenn schon, denn schon, dachte ich, machte meinen Hautton gleich um mehrere Nuancen dunkler, was nicht sonderlich schwer war, da mein Gesicht mindestens so hell wie ein Blatt Papier ist. Und zwar auf umweltschädigende Art und Weise gebleichtes Papier, nicht dieser grün-graue Recyclingkram.

Na ja, jedenfalls hatte ich nun eine ganz normale Gesichtsfarbe, die ich kurz darauf mit etwas Rouge und Bronzer zum Leben erweckte. Beim Lippenstift hielt ich wieder inne. Rosa passte nicht, das war viel zu lieb und verspielt für so ein vornehmes Restaurant. Knallrot war mir zu auffällig, also nahm ich einen leichten Beerenton. Noch Mascara, ein dezenter Lidschatten und braune Kontaktlinsen, dann erkannte ich mich selber nicht mehr wieder. Tatsächlich schaute mich nun eine unbekannte Frau aus dem Spiegel an, die mein Auftraggeber bestimmt nicht wiedererkennen würde. Wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt hatte, dann war es, mich durch bloßes Schminken in jemand anderen zu verwandeln.

Kurz darauf kramte ich in der Schmuckschatulle nach einer feinen Halskette und edel aussehenden Ohrringen, Silber mit Rubinen. Ein sündhaft teures Schmuckset meiner Mutter, eine der wenigen Sachen, die ich noch von ihr hatte. Die meisten anderen Habseligkeiten meiner Eltern hatte ich nicht angerührt, es war kaum etwas dabei, was für mich einen Nutzen gehabt hätte.

Ich sah auf die Uhr, es war schon nach sieben. Schnell stopfte ich das Paket, etwas Geld, ein Handy sowie mein Taschenmesser in eine Handtasche, zog mir meinen Mantel über und verließ den Raum. Ich schloss ihn ab und warf den Schlüssel zu dem anderen Kram in die Tasche, dann lief ich durch den Gang in die Bar, um mich von Alex zu verabschieden. Okay, die Verabschiedung bestand nur aus einem Winken meinerseits und einem in die Höhe gehobenen Champagnerglas seinerseits, aber so wusste er wenigstens, dass ich unterwegs war.

Ich ging eine Weile, aber ein paar Straßen weiter rief ich ein Taxi. Ich wollte zwar nicht den ganzen Weg laufen, aber ich wollte auch nicht, dass irgendjemand meine genaue Anfangs- und Endstation kannte. Also erzählte ich dem Fahrer, dass ich in ein Kino müsste, und verabschiedete mich dort von ihm.

Ich hörte, wie das Taxi davon fuhr, und sah mich um. Schon von hier aus konnte man die Kuppel erkennen, die sowohl das Dach als auch die Namensgeberin des Domes darstellte, und ich hielt mit großen Schritten darauf zu. Das Päckchen lag schwer in meiner Tasche, und ich wünschte, ich hätte es nicht dabei. Was auch immer dort drin war, ich wollte es so schnell wie möglich loswerden.

Es dauerte nicht lange, da stand ich vor den Fenstern des gesuchten Restaurants, aber ich konnte den jungen Mann nirgends entdecken, mit dem ich verabredet war. Seufzend ließ ich mich auf eine Bank nieder, die ganz in der Nähe des Eingangs stand, und sah auf das Handy. Es war genau zwei Minuten vor acht, also kein Grund, nervös zu werden. Ich fing an, die Sekunden von 120 an Rückwärts zu zählen, und wippte dabei ungeduldig mit den Beinen auf und ab. Auto um Auto fuhr an mir vorbei, Menschen liefen den Gehweg entlang und schenkten mir keine Beachtung, aber als ich bei Null angekommen war, saß ich immer noch alleine dort.  Er würde mich doch nicht alleine hier sitzen lassen, in der Kälte und mit seinem Paket in der Handtasche? Langsam kamen die Zweifel in mir hoch. Vielleicht hatte er mich nur reingelegt, wollte mich mit diesem Auftrag nerven oder testen, und was ist, wenn er mich den Besitzern des Päckchens ausliefern wollte?

Verärgert kickte ich einen Pappbecher zur Seite, der sich unter der Bank befand, und Ronald McDonald kam inmitten von Ich-liebe-es-Sätzen auf verschiedensten Sprachen zum Vorschein. Mit spitzen Fingern hob ich ihn auf und warf die durchweichte Pappe in den Mülleimer nur einen Meter weiter, wozu der ursprüngliche Eigentümer offensichtlich zu faul war.

Dann sah ich auf das Handy, und war erstaunt, dass es gerade erst Punkt acht war. Mir kam die Zeit viel länger vor. Genau in dem Moment setzte sich jemand neben mich, und ohne hinzusehen, wusste ich, dass es mein Auftraggeber war.

„Warten sie auf jemanden?“ fragte er, wobei er seiner Armbanduhr mehr Beachtung schenkte als mir. Okay, er hatte mich nicht erkannt, aber ich würde das Spiel noch ein Weilchen mit ihm spielen. Bevor ich irgendwas antworten konnte, sprach er jedoch einfach weiter.

„Ich war hier eigentlich mit einem Mädchen verabredet, von dem ich gedacht hätte, dass sie pünktlich ist, aber ich kann sie nicht finden.“

Nun war es an mir, einen gemeinen Kommentar abzugeben.

„Vielleicht sind sie auch einfach zu blind dazu“ grinste ich ihn nun an, und zum ersten Mal heute Abend sah er mir direkt ins Gesicht. Ich beobachtete, wie sich ein breites Lächeln in sein Gesicht schlich, und mir wurde klar, dass er mich nun enttarnt hatte.

„Na dann, wie wäre es, wenn wir beide einfach zusammen in dieses Restaurant gehen? Zufälligerweise habe ich dort einen Tisch für zwei bestellt, aber meine Begleitung scheint wie vom Erdboden verschluckt zu sein.“

Seine Augen blitzten, während er mir diesen Vorschlag machte, und meine Nervosität legte sich. Alles schien wie von selbst zu laufen, und ich versuchte, alle Bedenken in die hinterste Ecke meines Unterbewusstseins zu verbannen.

„Ja klar, wieso nicht?"

InvisibleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt