Der schöne Schein

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Kommissar Milton trommelte unzufrieden mit den Fingern auf seine Schreibtischplatte. Das Ganze ging ihm einfach zu langsam. Die letzte heiße Spur lag schon ein paar Tage zurück und hatte bestätigt, dass es richtig war, die Fahndung auf Knaben umzustellen. Der Pensionatslieferant Edward Holloway hatte die beiden in Skeginshire gesehen. Er gab zu Protokoll, dass ihm dort zwei Burschen buchstäblich in die Arme gelaufen waren. Sie kamen ihm vage bekannt vor, aber er hatte damals nicht weiter darauf geachtet und den Vorfall fast wieder vergessen. Bis er den Fahndungsartikel in der Zeitung las.

Doch seitdem hatte es keinen weiteren verwertbaren Hinweis gegeben.

Enttäuscht betrachtete Milton das Telegramm in seiner Hand. Es war von der Polizei aus Swivelfield, nicht weit von Skeginshire. Dort waren zwei Knaben aufgegriffen worden, auf die die Beschreibung passte. Der Kommissar hatte gehofft, dass dies das Ende der Suche war, aber leider hatten sich die Burschen als echte Knaben entpuppt. Seitdem fehlte wieder jede Spur.

Langsam begann Kommissar Milton, sich Sorgen um die beiden zu machen. Dass sie aber auch nirgends auftauchten! Irgendwo mussten sie doch Spuren hinterlassen! Auch wenn sie die umliegenden Dörfer und Städte mieden, waren sie gezwungen an irgendeinem Ort Nahrung zu kaufen, zu erbetteln, dafür zu arbeiten oder sonst irgendetwas zu tun. Jedenfalls, in der näheren Umgebung hatte der Fall genug Aufmerksamkeit erregt, sodass irgendjemand sie hätte erkennen müssen. Zwei höhere Töchter, die sich als Knaben verkleideten und aus ihrem Pensionat flohen, das war die Sensation schlechthin! Umso merkwürdiger, dass jegliche Spur fehlte. Am liebsten hätte er seine Männer in jedes Dorf im Umkreis von hundert Meilen geschickt, um sie dort nachforschen zu lassen, doch dazu standen ihm einfach nicht genügend Polizisten zur Verfügung. Er war auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass irgendwelche Hinweise kamen.

Zum hundertsten Male spielte er in Gedanken alle möglichen Szenarien durch, beleuchtete sie von allen Seiten und überprüfte die logischen Schlussfolgerungen. Was hatte er übersehen?

Entweder war den Mädchen wirklich etwas passiert, aber das wollte er vorerst weiterhin ausschließen. Die Flucht war so gut geplant, da glaubte er nicht, dass sie leichtsinnig in jede Gefahr hineinliefen. Andererseits, was wussten zwei so behütet aufgewachsene Damen schon von der Welt da draußen? Er verwarf den Gedanken. Diese Spur konnte er immer noch weiterverfolgen, wenn es absolut keine Hoffnung mehr gab.

Hatten sich die Ausreißerinnen irgendwelche Reittiere besorgt, sodass sie bereits viel weiter fort waren, als man vermutete? Die Spuren deuteten nicht darauf hin und das Besorgen von Reittieren war auffällig. Es bestand ferner die Möglichkeit, dass sie mit irgendwem ein Stück mitgefahren waren, aber dieser Jemand hätte sich längst melden müssen, sofern er aus der Umgebung war. War die Person jedoch ein Fremder, dann war er, Milton, wieder auf Hinweise angewiesen.

Eine weitere Option war, dass sie gar nicht mehr unterwegs waren, sondern sich zum Beispiel auf irgendeinem Gut verdingt hatten. Aber das schien ihm absurd.

Nichtsdestotrotz, warum hinterließen sie keine Spuren? Er las sich zum x-ten Mal die Fahndung durch. Irgendetwas hatte er noch übersehen.

Zwei Mädchen, als Knaben verkleidet, eine genaue Beschreibung ihres Äußeren, soweit möglich, sogar eine Zeichnung ihrer Gesichter mit kurzen Haaren, die extra angefertigt worden war.

Dieses Plakat war rundweg deutlich. Zumindest in dem Rahmen, in dem eine Fahndung deutlich sein konnte.

Gut, das mit den Gesichtern war riskant, denn sie mussten nur die Frisur etwas anders getroffen haben und schon sank die Erkennungsrate. Aber das Risiko hatte man immer. Trotzdem, die Erfahrung zeigte, dass die Erfolgsquote mit Bild höher lag als ohne. Aber dieser Fall hier war schließlich auch ein wenig speziell.

Es gab sogar eine kleine Belohnung als Anreiz. Milton war nicht unbedingt ein Freund davon, denn das führte nur dazu, dass haufenweise Fehlinformationen geliefert wurden, weil jedermann auf die Prämie hoffte. Neben den beiden zunächst vielversprechenden Knaben in Swivelfield gab es noch einige andere Fehlschläge. Darunter ein Bursche mit grellroten Hosen, obwohl in der Fahndung von dunklen die Rede war. Einen mit langen Haaren und sogar einen schwarzen Jungen hatten die braven Bürger auf das Polizeirevier geschleppt! Manchmal fragte er sich wirklich, ob sie sich die Beschreibung überhaupt richtig durchlasen.

Er betrachtete die Bilder und ging noch einmal den Text durch.

Zwei Knaben, zwei Knaben ... Milton kam ins Grübeln.

Plötzlich kam ihm eine Idee. Die Fahndung zielte eindeutig auf zwei allein reisende Burschen ab. Vielleicht waren sie gar nicht mehr allein unterwegs? In einer Gruppe würden sie nicht so sehr auffallen. Genau genommen sank die Wiedererkennungsrate in so einem Fall ganz erheblich.

Das war eine mögliche Erklärung. Milton gefiel der Gedanke. Aber um was für eine Gruppe könnte es sich handeln?

Bauern, die ihre Waren an den Mann brachten? Gaukler und Spielleute? Eine Bande Gleichaltriger? Ein paar Reisende? Vielleicht sogar eine Familie?

Das war es, was er übersehen hatte! Zunächst musste er also schleunigst die Vorlieben der Mädchen herausfinden. Sobald man einkreisen konnte, welcher Art von Gruppe sich die Ausreißerinnen angeschlossen hatten, ließen sich Rückschlüsse auf ihren jetzigen Aufenthaltsort ziehen. Die Angehörigen und zur Not auch die Mitschülerinnen konnten hier sicher Auskunft geben.

Beziehungsweise, er würde zuerst mit den Familien sprechen und dann hoffen, dass er dort genug Informationen bekam. Er war nicht sonderlich erpicht darauf, Oberin Margret erneut davon zu überzeugen, dass es notwendig war, die Schülerinnen noch einmal zu befragen. Einerseits fand er es lobenswert, wie sie versuchte „ihre Mädchen" vor allem und jedem zu beschützen, aber andererseits übertrieb sie es in seinen Augen. Nun ja, und der Ruf ... Oberin Margret und die Angehörigen waren zwar ehrlich um die Ausreißerinnen besorgt, aber genauso schwer wog nun auch einmal der liebe Ruf. Und der hatte durch die ganze Sache bereits arg gelitten. Die Idee mit der Belohnung gab dann allem noch den Rest.

Ein kleines Schmunzeln huschte über Miltons Gesicht. Die Oberschicht und ihr Ruf, es war doch jedes Mal das Gleiche. Das Einzige, was zählte, war der schöne Schein. Vermutlich hatten die Mädchen einen guten Grund gehabt zu fliehen. Er bedauerte es fast, sie womöglich bald ausfindig zu machen. Er wollte nicht in ihrer Haut stecken. Aber es war nun einmal seine Arbeit, vermisste Personen aufzuspüren.

Die Idee, die Ausreißerinnen könnten sich einer oder unterschiedlichen Gruppen angeschlossen haben, fand bei den Angehörigen großen Beifall. Das schürte zumindest die Hoffnung, dass sie noch lebten. Direkt gefolgt von der Sorge, was das denn für Leute wären.

Doch so wirklich fruchtbar war die Diskussion, wem sich die Mädchen beigesellt haben könnten, nicht. Niemand wollte sich vorstellen, dass seine/ihre Tochter/Verlobte/Schülerin/etc. sich „einfach so" überhaupt irgendjemandem anschloss. Milton seufzte innerlich und bereitete sich schon auf einen größeren Kampf mit Oberin Margret vor.

Diese war seit längerer Zeit auffallend ruhig und schien mit sich zu ringen. Trotzdem war Kommissar Milton ebenso erstaunt wie angenehm überrascht, als sie plötzlich von sich aus vorschlug, noch einmal ein paar ausgewählte Mitschülerinnen der beiden zu befragen.

SeinInstinkt sagte ihm, dass dies ihn ein ganzes Stück weiterbrächte.


Och, Milton! Ihr habt bisher doch auch die Erfahrung gemacht, dass Miltons Instinkt ärgerlich gut ausgeprägt ist, oder?

Love

Jeanette

Die Reise des Karneolvogels - Der WanderzirkusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt