Myras Auftritt (Teil 1)

95 11 12
                                    

Derweil streifte Riki erfolglos durch die Straßen. Die Stadt war einfach zu groß, wie sollte sie da jemals jemanden finden! Außerdem war sie es leid, in jedem zweiten Geschäft angeschnauzt zu werden und die abfälligen Blicke der Leute zu ertragen. Sie beschloss, noch einmal die Geschäftsstraße abzulaufen und dann zurück zum Lager zu gehen.

Plötzlich sah sie Felicitas, die sich die Nase an dem Schaufenster eines Damenschneiders platt drückte.

„Na, schaust du wieder nach Sachen, die du dir eh nicht leisten kannst?", begrüßte sie sie. Felicitas machte einen beachtlichen Satz zur Seite.

„Rick! Hölle mit Grießbrei! Schleich dich nicht so an! Du hast mich fast zu Tode erschreckt", beschwerte sie sich.

Riki grinste zufrieden wie eine satte Katze. „Das war zwar nicht meine Absicht, aber es sah sehr lustig aus."

Felicitas versetzte ihr einen spielerischen Hieb und deutete dann in das Schaufenster. „Hier, die haben so wunderschöne Kleider. Ich wünschte, ich könnte auch einmal so etwas tragen."

Riki schielte interessiert in die Auslage und setzte dann eine betont gelangweilte Miene auf. „Pah, ich finde, das sieht alles ziemlich unbequem aus."

„Ach, was verstehst du schon davon."

Riki enthielt sich jeglicher Antwort.

„Wir müssen zurück ins Lager, weil die erste Vorstellung bereits heute Abend stattfindet", informierte sie Felicitas stattdessen.

„Waaas, schon? Hölle mit Grießbrei, muss das sein!"

„Ist das denn nicht normal?"

„Nein, das ist ziemlich merkwürdig. Normalerweise dauert es mindestens ein oder zwei Tage, bis wir die Genehmigung kriegen. Vor allem in so einer großen Stadt. Aber am selben Tag hat das noch nie geklappt. Bäh, dann müssen wir wohl zurück." Felicitas' Miene sprach Bände.

„Du siehst ja unglaublich begeistert aus. Macht dir das Zirkusleben denn keine Freude?"

„Na ja, es geht so. Ich kenne es halt nicht anders. Aber immer dieses bescheuerte Üben, das geht mir so auf die Nerven!"

„Wenn dich eine gute Fee vor die freie Wahl stellen würde, wie du leben möchtest: Was würdest du dir aussuchen?"

Felicitas überlegte einen Moment, dann betrachtete sie versonnen das Kleid im Schaufenster. „Ich wäre gern eines dieser feinen Fräuleins. Dann könnte ich den ganzen Tag in meinen schönen Gewändern herumsitzen, mich in der Kutsche spazieren fahren lassen und die erlesensten Speisen essen. Und müsste nie wieder üben. Abends käme dann mein geliebter Ehemann und würde mir einen riesigen Strauß roter Rosen zu Füßen legen. Ach, das wäre herrlich!" Das Mädchen seufzte.

Riki auch, aber es war eine ganz andere Art von Seufzen. Halb zu Felicitas und halb zu sich selbst murmelte sie leise: „Aber der Preis dafür wäre, einen Mann zu heiraten, den du nicht liebst, und deine Freiheit komplett aufzugeben."

„Hä?! Hast du heute Morgen was Falsches gegessen?" Felicitas schaute sie an, als wenn Riki ihr soeben vom Rücken eines rosa-mintgrün gestreiften Elefanten aus die Tageszeitung auf Chinesisch vorgelesen hätte.

Riki schrak aus ihren Überlegungen. „Äh, nur so ein Gedanke. Ich meine, man hört doch ab und zu so was."

Felicitas schüttelte energisch den Kopf. „So'n Stuss. Niemand ist so dämlich einen Mann zu heiraten, den er nicht liebt!"

Riki hütete sich, das Thema weiter zu verfolgen.

Vielmehr hätte sie zu gern gewusst, warum diesmal die Anmeldung des Zirkus so schnell genehmigt wurde, doch Felicitas konnte sich keinen Reim drauf machen. Die beiden machten sich auf den Heimweg, in der Hoffnung, dass sich dort genug Zirkusleute eingefunden hatten, um eine Vorstellung abhalten zu können. Je näher sie dem Lager kamen, desto nervöser wurde Riki. Es behagte ihr überhaupt nicht, heute schon auftreten zu müssen, und sie hegte die stille Hoffnung, dass Ramiro nicht aufzufinden war. Am besten verbrachte er gleich die ganze Nacht in einer Kneipe. Oder noch besser, wieder im Gefängnis! Das geschähe ihm sowieso recht. So ganz generell.

Die Reise des Karneolvogels - Der WanderzirkusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt