Willkommen zu Hause

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Riki schaute dem Zug so lange hinterher, wie es möglich war. In dem Moment, als er mit einem schrillen Pfeifen hinter der nächsten Biegung verschwand, zerbrach etwas in ihr und die Einsamkeit fiel wie ein wildes Tier über sie her. Was hatte sie getan!

Mit letzter Kraft wankte sie zu einer Bank, auf die sie sich schluchzend fallen ließ. Die irritierten Blicke der anderen Reisenden, die den Bahnsteig nach und nach verließen, bemerkte sie nicht. Selbst wenn, es wäre ihr gleichgültig gewesen. Riki wusste nicht, wie lange sie dort, von immer neuen Weinkrämpfen geschüttelt, gesessen hatte. Irgendwann war nur noch Leere in ihr. Sie hatte nicht einmal mehr Tränen. Sie starrte blicklos auf den staubgrauen Boden, auf dem der Wind mit ein paar Sandkörnern spielte, wie es ihm gerade beliebte. Der Bahnsteig lag leer und verlassen zu Rikis Füßen und die Gleise zwinkerten träge, so als ob sie bereits vergaßen, welch kostbare Fracht sie soeben befördert hatten. Gelegentlich tastete ein vereinzelter Sonnenstrahl suchend über das vereinsamte Pflaster der Plattform, bis die nächste Wolke ihn wieder verschlang.

Wenn man allein in einem verlassenen Bahnhof sitzt, dann scheint die Welt ringsum nicht mehr zu existieren. Fast so, als ob der Bahnsteig einen eigenen kleinen Mikrokosmos bildet. Nur Menschen mit besonders viel Fantasie sind in der Lage sich vorzustellen, dass, wenn man den Schienen sehr sehr weit in die eine oder andere Richtung folgt, irgendwo womöglich doch noch jemand wohnt.

Riki fixierte die Gleise, ohne sie zu sehen, und fühlte sich wie das einzige Lebewesen auf Erden. War ihr Kopf vorhin nicht fähig, auch nur einen Gedanken zu fassen, so füllte er sich nun plötzlich mit lauter absurden Beobachtungen. Sie starrte auf die Schienen, die sich zu ihren Füßen in beiden Richtungen der Unendlichkeit entgegenreckten. Die alten, dunklen Holzbalken zwischen den Gleisen waren rissig, aber stabil und strahlten die wettergegerbte, robuste Würde eines kernigen Abenteurers aus. Die Schienen waren rostig, jedoch nicht auf der Oberseite, auf der die Züge dahinglitten. Jene eisernen Schlangen, die die Leute zu sehr unterschiedlichen Orten brachten ...

Je nachdem, was der Reisende vorhatte, konnte das für ihn gut, aber auch schlecht sein. Der Schiene war das einerlei. War es trüb oder regnerisch, dann wirkte die Oberfläche unbeteiligt wie mattes Blei. Doch wenn die Sonne vom Himmel strahlte, dann glänzte sie verheißungsvoll wie flüssiges Silber. Obwohl das Eisen immer das gleiche war.

Zwischen dem scharfkantigen, grauen Schotter streckte ein Löwenzahn seinen strahlend gelben Kopf heraus und rekelte die Blätter im Wind. Es sah fast so aus, als klopfe er sich den Ruß des Zuges von seinem grünen Kleid. Die kleine Pflanze hatte sich einen wenig gastlichen Ort als Zuhause ausgesucht, doch sie wirkte zufrieden. Der merkwürdige karneolfarbene Vogel war zurückgekehrt. Er kam neugierig herangehüpft und beäugte Riki mit leicht schräg geneigtem Kopf. Fast ein wenig vorwurfsvoll, so als sollten seiner Meinung nach Leute, die keine Brotkrumen dabeihatten, auch nicht auf dem Bahnsteig sitzen und Trübsal blasen. Riki beobachtete ihn eine Weile, wie er emsig damit beschäftigt war, die Plattform nach etwas Essbarem abzusuchen. Irgendwann wurde ihm langweilig. Er schaute Riki noch einmal an, zwitscherte kurz und flog davon. Der Vogel hatte recht. Sie konnte nicht den ganzen Tag todtraurig und mutterseelenallein auf dem Bahnsteig sitzen. Sie hatte sich für etwas entschieden, also sollte sie es auch angehen! Riki atmete tief durch, wühlte in ihrem Täschchen nach der Bahnsteigkarte, schnappte ihren Koffer und stand entschlossen auf. Ohne zurückzublicken, marschierte sie durch die Personensperre zu dem Bahnhofsgebäude, durchmaß es mit schnellen Schritten und trat auf die belebte Hauptstraße. Ein Ort, der zu dem verlassenen Bahnsteig nicht gegensätzlicher sein konnte. Ohne zu zögern, tauchte sie in das pralle Leben ein. Sie wusste, wo sie hinwollte. Zielstrebig fand sie ihren Weg zurück durch die Stadt, bis sie endlich die Straße erreichte, die sie zu dem See führte, an dem die Gaukler lagerten.


Riki beschleunigte ihren Gang. Mit jedem Atemzug fühlte sie sich freier, als ob jeder Schritt, den sie zwischen sich und ihr altes Leben brachte, ein Stück einer unsichtbaren, aber erdrückenden Last von ihr nahm.

Sie konnte es kaum erwarten, die Gaukler und vor allem Ramiro wiederzusehen. Doch was ihr Herz wirklich mit Zuversicht füllte, war, dass sie endlich ihre Freiheit gefunden hatte, und diese war unabhängig von ihrer Liebe zu Ramiro und gehörte nur ihr, Riki, allein. In letzter Sekunde hatte sie erkannt, dass die elementare Triebfeder ihres Lebens ebendiese Freiheit war und diese würde sie für nichts und niemanden wieder hergeben. Dessen ungeachtet brannte sie darauf, mit den Gauklern das Rätsel um den verschwundenen Karneolvogel zu lösen und ihn wiederzufinden, bevor Ramiro in ernsthafte Gefahr geriet. Dabei hoffte sie natürlich auch, dass sie diese Geschichte mit ihm gemeinsam durchstehen konnte – sofern er sie denn dabeihaben wollte.

Mit raumgreifenden Schritten näherte sich Riki dem See. Jetzt war es nicht mehr weit!

Schließlich sah sie das Lager der Gaukler verschmitzt durch die Bäume schimmern. Riki hielt kurz inne, nur um dann mit einem Freudenschrei loszurennen. Auf halbem Weg kam ihr bereits Flipflip entgegengaloppiert, mit einer wild auf seinem Hals hin- und herschaukelnden Uri. Lachend umarmte sie das Eselchen und wuschelte glücklich durch das Fell des protestierenden Äffchens. Flipflip keilte übermütig mit den Vorder- und Hinterläufen aus. Keine fünf Sekunden später fiel Felicitas ihr um den Hals und zog sie fröhlich plaudernd zum Lager.

Dort stand Dolores an ihrem Kessel und rührte in einem kräftig duftenden Eintopf. Sie blickte lächelnd auf, einen wissenden Ausdruck in den Augen.

„Willkommenzu Hause, Riki."


Endlich! Riki ist angekommen! 

Damit ist "Die Reise des Karneolvogels - Der Wanderzirkus" abgeschlossen. Nicht aber die Geschichte von Riki und Ramiro. Und auch der Karneolvogel ist nach wie vor verschwunden. Um ihn geht es im nächsten Buch "Die Reise des Karneolvogels - Die Stadt der Gaukler". Denn die große Versammlung der Gaukler rückt näher und Ramiro braucht das Artefakt, sonst geht es ihm wirklich schlecht.  Selbstverständlich werdet ihr dort auch erfahren, wie es Myra in der Zwischenzeit ergeht, denn sie ist euch bestimmt ebenso ans Herz gewachsen wie mir. Sie findet übrigens etwas über ihren (zukünftigen) Gatten heraus, was dem Ganzen noch einmal eine ganz neue Wendung gibt.

Ehe sie sich versehen lande alle, ja, genau, ihr lest richtig: alle! Also, es landen alle in "Die Reise des Karneolvogels - Die Macht des Kodex" in einer Intrige, mit der beim besten Willen niemand rechnen konnte. 

Damit habe ich euch verraten, dass "Die Reise des Karneolvogels" eine Trilogie ist. Die gute Nachricht ist, dass die Geschichte bereits komplett abgeschlossen ist. Die andere Nachricht ist ein bisschen gemein, denn die letzten beiden Bände gibt es nur als ebook oder Taschenbuch überall da, wo es Bücher gibt. Ja, das ist echt, fies, ich weiß! Aber es hat auch sein Gutes, denn wenn ihr wissen wollt, wie es weitergeht, müsst ihr nicht mehr warten. ;-)

Ich hoffe, ihr verzeiht mir diese kleine Gemeinheit. Wie auch immer ihr euch entscheidet, ich hoffe, meine Geschichte hat euch gefallen und ich konnte euch viele schöne Lesestunden bereiten. Wenn ihr Lust auf ein Widerstehen mit Riki und den Gauklern habt, dann wisst ihr ja, wo ihr sie findet. 

Wenn ihr wollt, könnt ihr mich auch gerne auf meiner Homepage besuchen, ich freue mich! Auf https://www.jeanette-lagall.de/  findet ihr noch eine ganze Menge interessanter Dinge. Oder ihr schaut mal auf Facebook oder Instagram vorbei.

Love

Jeanette

Die Reise des Karneolvogels - Der WanderzirkusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt