Kapitel 6

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Eine Woche war vergangen, seit ich mit Cas das letzte Mal trainiert oder ihn überhaupt gesehen hatte. Es war dennoch eine anstrengende Woche, denn anstatt Cas trainierte nun Jones mit mir - und entgegen meiner Erwartungen, war Jones um ein Vielfaches strenger als Cas.

Umso erleichteter war ich, als Jones mir am Freitag beim Mitagessen erläuterte, dass ich heute frei hatte und machen durfte, was ich wollte. Noch nicht ein Mal der komische Mensafraß, der mir vorgesetzt wurde, konnte noch etwas an meiner Freude ändern. ,,Viele Proteine. Gut für den Muskelaufbau," wurde mir erklärt, als ich mich das erste Mal über den mehr als gewöhnungsbedürftigen Geschmack des Essens hier beschwert hatte. Nach einer Woche hatte ich mich daran gewöhnt. Genauso wie an ganz andere Sachen. Ich hatte mich an Jones gewöhnt, der zwar streng, aber außerhalb der Unterrichtsstunden ein lustiger Kerl war. Ich hatte mich an den Unterschlupf von Cas Gang gewöhnt, in dem ich mich langsam immer besser und besser zurechtfand. Und ich hatte mich an die vielen komischen Blicke gewöhnt, die mir hier zugeworfen wurden.

,,Es gibt nicht oft Frauen hier, die etwas anderes tun, als sich um die Kinder zu kümmern, oder zu kochen. Nicht, weil wir sie nicht machen lassen würden, sondern weil sie nicht wollen. Außerdem hat Cas dich persönlich hier her gebracht, das kommt sonst nie vor," war Jones Erklärung dafür, worauf ich mir den verbissenen Kommentar verkneifen musste, dass ich ja nicht freiwillig hier war.

Zufrieden lehnte ich mich zurück und sah auf meinen leeren Teller hinab. Auch wenn die Menschen mich anscheinend nicht wirklich mochten, fand ich es hier nicht so schlimm, wie ich anfangs gedacht hatte. Das viele Training lenkte mich von meinen Sorgen um Jax ab, ich musste mir keine Sorgen mehr machen, wo meine nächste Mahlzeit herkam und ich war nicht mehr den willkürlichen Wutausbrüchen meines Bruders ausgesetzt, auch wenn ich mir immer noch Sorgen um ihn machte.

Gemütlich stand ich auf und brachte meinen Teller zu Bertha, der Mensafrau zurück, bevor ich mich mit einem knappen Nicken verabschiedete und den Raum verlassen wollte. Ich war schon an der Tür angelangt, als hinter mir jemand laut meinen Namen rief. Irritiert blieb ich stehen und drehte mich um, nur um einen außer Atem geratenen Jones zu sehen, der offenbar hinter mir her gerannt war, um mich einzuholen. Vor mir blieb er stehen und lächelte mich mit seinem unverwechselbaren Joneslächeln, dass seine kleine Zahnlücke in der Mitte seiner Schneidezähne offenbarte, an.

Scheinheilig fragte er: ,,Und, was hast du an deinem freien Tag heute so vor, liebe Liss?" Augenverdrehend schmunzelte ich. ,,Nichts habe ich vor und das weißt du ganz genau. Ich werde mich wahrscheinlich in mein Bett legen und schlafen." Als hätte er meine Lüge enttarnt, schürzte Jones unzufrieden seine Lippen, bevor er einen wehleidigen Hundeblick aufsetzte.

,,Aber stattdessen könntest du doch auch June und mich zu unserem Picknick begleiten und meine oberhammertolle Tochter besser kennen lernen." Entgeistert starrte ich Jones an. Hatte ich etwa den Eindruck gemacht, gut mit Kindern umgehen zu können? Oder sie zu mögen?

,,Ähm...," setzte ich an, um seinen Wunsch höflich abzulehnen, wurde allerdings von Jones lautem ,,Bitte, bitte, bitte," unterbrochen. ,,Ich habe ihr gesagt, dass du mitkommst und sie freut sich schon den ganzen Tag darauf. Das kannst du ihr nicht antun," schob er hinterher, als er meinen unschlüssigen Gesichtsausdruck bemerkte.

Halb amüsiert, halb genervt seufzte ich auf. ,,Na gut, aber ich kümmer mich um nichts. Ich werde eingeladen und auf deine Tochter kannst du selber aufpassen, klar?" Streng sah ich Jones an, dessen Gesicht sofort ein fettes Grinsen zierte, das mich meine Entscheidung gleich wieder bereuen ließ. Bevor ich mich versah, hatte er mir einen feuchten Schmatzer auf die Wange gedrückt und ließ mich mit einem freudigen ,,Bis nachher, Liss," stehen.

Kurz schaute ich ihm perplex hinterher, bevor ich mich auf den Weg in mein Zimmer machte, um mir etwas frisches anzuziehen. Ich konnte die Male, an denen ein Junge mich auf die Backe geküsst hatte, an einer Hand abzählen. Ich war zwar nicht unerfahren, doch es war immer etwas einmaliges und nie etwas persönliches. Das gerade eben allerdings, hatte etwas liebevolles an sich.

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