Kapitel 1

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So leise wie möglich versuchend zu atmen, stieg ich die Treppen zu meiner kleinen Ein-Zimmerwohnung hoch. Im Treppenhaus war es kalt und stickig und überall roch man den Schimmelgeruch, der schon seit Jahrzehnten an den bröckeligen Wänden des uralten Gebäudes haftete. Meine Schritte hallten laut im Treppenhaus wieder, obwohl ich mir die größte Mühe gab, leise zu laufen, um die anderen Bewohner nicht aufzuwecken. Denn niemand von ihnen wäre sehr erfreut darüber, mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen zu werden, diese Erfahrung hatte ich bereits gemacht und wollte sie ganz bestimmt kein zweites Mal machen. Denn je weiter ich die Stufen des verdreckten Treppenhauses erklomm, je weiter nach oben meine Füße mich brachten, desto schäbiger wurden die Wohnungen, desto schlimmer wurde der Geruch nach Schimmel, gemischt mit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, desto unangenehmer und verbissener wurden die Menschen, die dort wohnten.

Meine Wohnung war die oberste. Eine schlichte, braune Tür, umgeben von tristem, herabbröckelndem Putz, gegenüber einer anderen, noch dünneren Türe, die meiner Nachbarin gehörte. Oben angekommen steckte ich den Schlüssel in das ramponierte Schloss, das schon die ein oder anderen Einbruchsversuche überlebt hatte. Nicht verhindert, was der eigentliche Sinn dieses Gegenstands sein sollte, aber immerhin überlebt. Mehr konnte ich nicht erwarten.

Quietschend ging die Eingangstür zu meiner Wohnung auf und ich konnte eintreten. Sofort umfing mich der Gestank nach Erbrochenem, vermischt mit dem Geruch der Brötchen, die ich heute morgen aufgebacken hatte, weil sie das letzte, noch Essbare in meiner Küche gewesen waren. Für mehr reichte das Geld nicht.

Kaum war ich eingetreten, hörte ich schon ein lautes Klackern aus dem Badezimmer, das Geräusch von aufeinander reibenden Ketten, als ob sich jemand dringend von diesen befreien wollte. Zögernd legte ich meine Schlüssel auf die kleine Kommode neben der Tür und näherte mich der Badezimmertür. Kurz davor blieb ich stehen, um mir Mut anzusammeln, bis ich schließlich langsam eintrat. Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich für einen kurzen Moment erstarren. Es war nie einfach, aber heute war es besonders schwer. Auf dem Boden, der von kaputten Fließen bedeckt war, lagen Stückchen von Erbrochenem, die Luft in dem kleinen Raum stand und roch nach einer Mischung aus Urin und Kotze. Mittendrin kauerte wie ein Häufchen Elend ein Mensch, dessen Hände mit Handschellen an das Abflussrohr des Waschbeckens gekettet waren.

Als er bemerkte, dass er nicht mehr alleine war, hob er langsam den Kopf und schlug die Augen auf. Sein trüber Blick verfolgte jeden meiner Schritte, als ich mir einen Lappen holte, einen Eimer voll mit frischem Wasser und Seife füllte und mich so schnell wie möglich daran machte, den Boden wieder zu säubern. Stille erfüllte den Raum, nur das Geräusch des nassen Lappens war zu hören, als ich mit ihm wieder und wieder über den Boden glitt, bis ich schließlich hinter mir seine raue Stimme hören konnte.

"Wieso tust du dir das an?". Es war nur ein schwaches Flüstern, aber ich konnte es trotzdem hören. Darauf bedacht, mich nicht umzudrehen, konzentrierte ich mich weiter auf den Boden. Ich wusste, dass wenn ich mich jetzt umdrehen und ihn anschauen würde, ich womöglicherweise die Fassung verlieren würde und das wäre für niemanden in diesem Raum gut. Als er merkte, dass ich ihm wohl so schnell keine Antwort geben würde, erklang hinter mir erneut das Geräusch der Handschellen, als er versuchte, sich in eine bequemere Sitzposition zu begeben. Seine Handgelenke mussten nach geschlagenen zwei Tagen ganz schön schmerzen.

In Gedanken versunken, hatte ich es nicht bemerkt, dass seine Füße hinter meinem Rücken zu einem Tritt ausholten. Erst als ich gegen die Wand der Badewanne geschleudert wurde und ein grellender Schmerz meine Wirbelsäule durchfuhr, realisierte ich, woher die Geräusche eigentlich kamen. Krampfhaft versuchte ich Luft zu holen und versuchte meinen schmerzenden Rücken abzutasten, als ich aus den Augenwinkeln eine erneute Bewegung wahrnahm.

Es war ein sehr kleines Bad, es war gerade noch so Platz für ein Waschbecken, ein Klo und eine Badewanne, in die ich vielleicht hineingepasst hätte, wäre ich eine 5-jährige. Wenn sich eine Person an die Wand setzte, musste sie die Beine anwinkeln, um nicht die gegenüberliegende Wand zu berühren. Das wurde mir nun zum Nachteil, denn just in dem Moment, als ich wieder Luft bekam, folgte schon der nächste Tritt in meinen Magen.  Stöhnend rollte ich mich zur Seite und röchelte nach Luft. Gedämpft hörte ich seine Stimme, die immer lauter wurde, je öfter er zuschlug und je länger ich ihm keine Antwort gab.

,,Ich hab dich was gefragt, rede mit mir, du dumme Schlampe! Warum tust das, hm?" Er redete sich in Rage, trat um sich, versuchte mit aller Kraft von den Ketten wegzukommen, aber ich ignorierte ihn, ließ die Beleidigungen, die er mir an den Kopf schmiss, alle an mir abprallen. Er war im Moment nicht er selbst und der Entzug, den er gerade durch machte, war nicht einfach.

Eine Weile war es still, das einzige Geräusch das den Raum füllte, war mein Röcheln nach Luft und sein lautes Atmen, das mit der Zeit immer leiser wurde und sich in ein leises Schluchzen umwandelte. Langsam setzte ich mich auf und schaute die zusammengekrümmte Person an, die an der Wand lehnte und der dicke  Tränen die Wangen herunterliefen. Traurig musterte ich ihn. Es brach mein Herz, ihn so zu sehen. Seine Kleidung hing teilweise in Fetzen von seinem Körper und durch die großen Löcher darin, konnte man deutlich die hervorstehenden Knochen unter seiner blassen Haut sehen. Die dunklen Augenringe hoben sich deutlich von seinem weißen Gesicht ab und zeigten, dass er in letzter Zeit wahrscheinlich noch weniger Schlaf hatte als ich.

Vorsichtig stand ich auf, immer darauf bedacht, keine schnelle Bewegung zu machen, einerseits um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, andererseits um meinem schmerzenden Körper keine weiteren Schmerzen hinzuzufügen.

Traurig blickte ich nach unten. Gerne hätte ich ihn umarmt und gesagt, dass alles wieder gut werden würde, doch er war unberechenbar und ich wollte nicht, dass er mir heute noch ein mal wehtat. Bevor ich dem Drang also nachgeben konnte, schnappte ich mir den Lappen und den Eimer mit dem inzwischen kalten Wasser und setzte daran, das Badezimmer zu verlassen. Ich stand gerade im Türrahmen, als ich es mir doch noch ein mal überlegte und mich umdrehte.

,,Ich mache das, weil du mein Bruder bist und ich dich liebe. Du bist die einzige Familie, die ich noch habe und die werde ich nicht auch noch verlieren. Und es ist mir egal, wie lange das hier dauert, wie lange ich dich noch an diese Wand fesseln muss, bis du clean bist und dein Leben wieder unter Kontrolle kriegst. Wir schaffen das zusammen."

Meine Worte waren an ihn gerichtet, machten mir allerdings selbst Mut. So lange, bis ich ein verbittertes Lachen wahrnahm, gemischt mit einem gehässigen Aufschnauben.

Aus rot angelaufenen, hasserfüllten Augen schaute er mich an. In seiner Stimme lag so viel unterdrückte Wut, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat, als er sprach.

,,Wenn ich hier los komme, mach ich dich fertig Liss, das schwöre ich dir."

TakedownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt