Prolog

289 7 0
                                    

„Im Schatten der hohen Tatra, dort wo die Winter kalt und rau sind, wo das Leben gefährlich und das Überleben schwierig ist, wo nur die Stärksten durchkommen, dort leben Werwölfe, wie sie sonst nirgendwo zu finden sind", erzählt die Oma ihren Enkelkindern. „In den weitläufigen Fichtenwäldern am Fuße der Berge leben wahre Monster. Sie überragten alle anderen Werwölfe und waren muskelbepackt. Nirgendwo sonst sind die Wölfe so groß und so kräftig, wie in diesem von Menschen gemiedenen Gebiet."

Die Kinder sitzen vor ihr, sie sind still und trauen sich nicht einmal, sich zu bewegen. Im Raum brennt nur eine Kerze, die ein flackerndes Licht spendet und gespenstische Schatten an die Wände wirft. Draußen tobt ein heftiger Sturm, die Winde heulen durch die Straßen und wie immer, wenn dies der Fall ist, versucht die Großmutter die Enkel mit einer Geschichte zu fesseln und abzulenken. Wie immer gelingt es ihr auch dieses Mal.

„Die besonderen Umstände haben diese Wölfe auch viel enger zusammengeschweißt, wie dies in anderen Gebieten der Fall ist. Sie sind eine Einheit, die Regeln werden strikt eingehalten und Ausnahmen werden nicht geduldet. Wer gegen das Gesetz der Werwölfe verstößt, wird hart bestraft. Oft bedeutet dies, dass der Schuldige des Rudels verstoßen wird, was fast immer den sicheren Tod zur Folge hat. Werwölfe können nicht lange allein leben, ohne aggressiv und schließlich verrückt zu werden. In den Karpaten jedoch kommt es meist gar nicht so weit. Da schlägt meist die feindliche Natur zu, bevor die Einsamkeit den Wolf dahinrafft. Die harten Lebensbedingungen in den weitläufigen Wäldern sind allein kaum zu meistern."

Mit großen Augen folgt vor allem Jenny der Erzählung ihrer Großmutter. Sie ist die Tochter des Alpha. Sie ist noch sehr klein und deshalb das Nesthäkchen.

„Igor hat wohl als einziger eine solche Verbannung überlebt. Keiner weiß bis heute, warum er es trotz aller Widrigkeiten geschafft hat. Aber offenbar hat er es geschafft, sowohl der Natur als auch der Einsamkeit zu trotzen. Er hatte sich Soros, dem Alpha des mächtigen Karpatenrudels, drohend in den Weg gestellt, als dieser seine Schwester angreifen wollte. Sie hatte ihm widersprochen und sich damit den Zorn ihres mächtigen Bruders zugezogen. Hätte sich Igor nicht vor das Mädchen gestellt, wäre es ihr sicherer Tod gewesen. Doch der Alpha hatte kein Einsehen und seine Stellung geltend gemacht. Das Gesetz ist in einem solchen Fall klar, Igor musste das Rudel verlassen. Dem Alpha die Stirn zu bieten, ist heute noch ein schweres Verbrechen."

„Warum denn?", will Jenny wissen.

„Das ist egal. Wenn die Bedingungen hart und das Leben schwierig sind, braucht es einen starken Anführer. Wenn jeder machen würde, was er wollte, dann würde das Rudel geschwächt und hätte deutlich geringere Chancen, in einer unwirtlichen Umgebung zu überleben. Deshalb stärkt das Gesetz der Werwölfe die Position des Alpha und erhebt ihn über alle anderen."

„Aber Igor hat doch nur die Schwester des Alpha verteidigt. Vermutlich hat er ihr das Leben gerettet. Auch ein Alpha darf nicht einfach, weil es ihm in den Sinn kommt, einen Werwolf aus dem eigenen Rudel ohne triftigen Grund töten", protestierte Jenny.

Die Großmutter muss lächeln. Das ist typisch für ihre kleine Jenny, die immer für die Schwachen eintritt. Schon öfter hatte sie sich vor einen Welpen gestellt, den ein anderer drangsalierte. Mobbing ist ihr überhaupt ein Gräuel. Ihr ist in solchen Fällen egal, ob der andere größer ist als sie. Die Tochter des Alpha anzugreifen, traut sich dann doch keiner. Diesen Vorteil hat sie schon immer ausgenutzt.

„Auch, wenn sein Handeln richtig war, es verstieß damit gegen das Gesetz der Werwölfe und deshalb musste er bestraft werden."

„Das finde ich blöd", meckert die Fünfjährige. „Was ist mit Igor geschehen?"

„Er wurde, wie schon gesagt, aus dem Rudel ausgeschlossen und ist in die Wälder gezogen. Er hat sein Schicksal ohne Murren angenommen und soll sich nicht ein einziges Mal mehr umgedreht. Angeblich soll er sich in den dichtesten und dunkelsten Teil des Waldes zurückgezogen haben.

Lange Zeit hat man überhaupt nichts von ihm gehört oder ihn gar gesehen. Alle waren der Ansicht, er sei gestorben. Doch irgendwann fanden die anderen Wölfe immer wieder ein kleines Lebenszeichen. Zunächst brachte man es gar nicht mit Igor in Verbindung. Doch mit der Zeit wurde immer klarer, dass sich ein Werwolf in der Gegend aufhalten musste. Das konnte dann wohl nur Igor sein. Ihn selbst haben sie allerdings nie zu Gesicht bekommen.

Es ist nicht einmal sicher, ob die Lebenszeichen wirklich von Igor stammen oder ob sie ihm nur zugeschrieben wurden. Tatsache ist, dass sich heute unzählige Geschichten und Märchen um ihn ranken. Er ist zu einem Helden geworden und wird zum Teil sogar verehrt. Wenn er es geschafft hat, der Natur und der Einsamkeit zu trotzen, dann grenzt das tatsächlich an ein Wunder."

„Und was sind das für Geschichten und Märchen?"

„Eine Gesichte besagt, dass er von der Mondgöttin auserwählt wurde und deshalb überlebt hat. Sie soll ihm eines Nachts erschienen sein und lange mit ihm geredet haben. Er soll von ihr mit einer sehr wichtigen Mission beauftragt worden sein. Warum Luna genau ihn auserwählt hat, das weiß natürlich niemand. Es gibt zwar viele Vermutungen, aber für keine davon konnte jemals ein Beweis gefunden werden. Auch in den alten Schriften ist nirgends von einem Außerwählten die Rede."

„Er soll über die Werwölfe wachen und einschreiten, wenn Krieg droht", plappert Jenny daher.

„Kann sein, meine Kleine. Kann sein", meint die Großmutter.

Die Wölfe der KarpatenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt