Kapitel 1 - Stay

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Rihanna ft. Mikky Ekko - Stay (Kygo Edit)

Ich lief durch den Park, meine Kopfhörer aufgesetzt und die langen dunkelbraunen schimmernden Haare zu einem lockeren Zopf zusammen gebunden. Den Song hatte ich schon so lange nicht mehr angehört. Ich wusste, dass der Text traurig ist und die Melodie... es war pure Absicht der Produzenten, den Zuhörer in diese Melancholie zu versetzen, die ich soeben verspürte.

Mein Unterbewusstsein, nein, vielmehr mein Bauch sagte mir da etwas anderes. Es war damals etwas vorgefallen und ich versuchte mich zu entscheiden, ob ich meine Erinnerungen durchwühlen und auf den Kopf stellen sollte oder lieber bei dem Kampf um die Verdrängung Stellung zu beziehen.

Die Verdrängung verlor die Schlacht in meinem Kopf und so fühlte sich mein Körper nun an. Zerrissen. Ausgelaugt. Als wäre es der einzige Grund gewesen, warum ich gelebt hatte. Um diesen Kampf in mir selbst zu bestreiten und entweder zu gewinnen oder zu verlieren. Verloren hatte ich sowieso schon.

Die Blätter raschelten, als ein Kaninchen aus den Büschen hervor kroch und nahezu panisch über das Fleckchen grün sprang und im nächsten Busch versteckte.

Ich nahm mein Smartphone aus der Hosentasche und entsperrte den Bildschirm. 1973.

Keine besondere Jahreszahl, nein. Zufall. Wenn man ein Viereck auf dem Nummernfeld bildet, ist die Auswahl dieser Ziffernkombination als Code relativ einleuchtend. Links oben, rechts unten, links unten, rechts oben. Nicht, weil die Nummern so toll waren, sondern die Daumenbewegung über dem Tastenfeld innerhalb weniger Stunden überaus perfektioniert und schnell auszuführen. Gute Wahl.

Ich öffnete Whats App und klickte auf meine Kontakte. So viele Bekannte, die ich nie angeschrieben hatte. So viele Freunde, die nie wirklich richtige Freunde für mich waren. Ich scrollte weiter nach unten.

Und einer meiner besten Freunde, zu dem ich den Kontakt abgebrochen hatte. Ich musste.

Er hatte mich gebeten, anders zu entscheiden, aber ich konnte nicht. Er bat mich darum, seinen Bruder zu belügen, seine besten Freunde. Ich durfte nicht über das Geheimnis reden, dass er mir anvertraut hatte, nur weil ich unbedingt wissen wollte, was ihn denn so sehr beschäftigte. Ich weiß noch genau, was er mir daraufhin antwortete.

"Es würde dir nicht helfen... du solltest es nicht wissen..."

Ich fand es heraus, da sich meine Überredungskünste, Probleme aus anderen heraus zu quetschen, durchaus auf hohem Niveau befanden. Ich hielt mein Versprechen, nicht darüber zu reden. Aber aufhören, darüber nachzudenken, konnte ich auch nicht.

Der einzige Weg mein Stillschweigen zu garantieren, war zu beenden, was begonnen hatte. Freundschaft.

Das Geheimnis an sich, war nicht das Problem. Nicht darüber zu reden und somit nicht den Schock verarbeiten zu können. Das war das wirkliche Problem. Es wäre so simple gewesen. Einfach zu sagen: "So ist es, aber ich komme damit klar... also mach dir keinen Kopf, Camille."

Das hättest du besser mal machen sollen.

***

Der Wecker klingelte unaufhörlich. Mist. Ich klatschte meine müde Hand auf den kalten Boden und suchte nach dem Ausschaltbutton. Ich wollte nicht die kalte Luft hinein lassen. Nicht zu mir unter die Decke.

Ich wollte heute auch nicht in die Schule, nicht schon wieder nach diesem unglaublich verwirrenden Traum. Ich hatte ihn schon fünf Mal geträumt und immer wenn es darum ging, wirklich heraus zu finden, was mein innerstes Ich anscheinend schon so lange weiß, werde ich geweckt. Einfach hinausgerissen.

Mittlerweile dachte ich nicht mehr daran, dass es ein normaler Traum war. Ich glaube, es war eine Abwandlung der wahren Begebenheit in meinem tragischen Leben, als mein Kumpel beschloss, mich toll zu finden und es nicht mehr normal war, mich mit ihm über ernste und normale Themen zu unterhalten. Einfache Themen, wie die Sonne das Immunsystem stärkt oder wie unfair es war, dass Männerparfüms so unglaublich anziehend riechen können. Normalerweise bequatscht man so etwas auch mit seiner besten Freundin. Wäre cool. Ja. Das sehe ich eindeutig genauso.

Aber seitdem sie mit dem coolsten Jungen des Jahrgangs erfolgreich eine dreiwöchige Beziehung geführt hatte, kam sie verheult zu mir. Zu meiner Verteidigung: Ich sagte ihr nicht, dass sie das von Anfang an hätte wissen können.

Wie man das so machen sollte, nahm ich sie in den Arm und tröstete sie, indem ich sinnlose Sätze von mir gab. "Alles wird wieder gut" und "Ich weiß, es tut sehr, sehr weh". Allerdings hatte ich aus ihrem Schluchzen die wichtigste Information, das wichtigste Detail, nicht entziffern können. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie mir sagte, dass sie nicht mehr kann.

Sie hat sich nicht umgebracht, um Himmels willen, nein! Sie hat die Stadt verlassen und sich nie wieder gemeldet.

Zum Aufstehen zählte ich Countdown. 5, 4, 3, 2, 1, 0 !

Bei Null sollte ich eigentlich aufstehen, das war der Plan. Also zählte ich wiederholt, aber diesmal von 10 runter. So hatte ich mehr Zeit mich auf die kurz bevorstehende weltverändernde Aktion einzustellen. Bei Null sprang ich nicht sonderlich grazil aus dem Bett und erschrak vor der Kälte, die mich von allen Seiten umhüllte. Misson Number One fulfilled. Zumindest für heute.

Ich fasste nach dem kuscheligen Pullover von gestern Abend und zog ihn über, um während des Frühstücks nicht zu frieren. Frühstück ist zum wach-werden. Davor braucht man nichts anzufangen, außer mit kaltem Wasser den dünnen Fettfilm auf dem Gesicht abzuwaschen.

***

"Hey Cam, hier ist dein Kaffee!", begrüßte mich Daniel, ein guter Freund meines Bruders. Mittlerweile schleppten die beiden mich manchmal zu ihren Jungstreffen mit. Keine Sorge, ich sage nicht, dass es Gewohnheit geworden war. Aber anscheinend war meine Anwesenheit nicht mädchenhaft genug, denn Mädchen waren bei ihren männlichen Planungen nicht erwünscht.

"Danke, Daniel... weißt du wo Hannah ist?", fragte ich ihn nach den Aufenthalt seiner fast-Freundin. Sie wusste zwar noch nichts davon, aber er stand sowas von auf ihre freche, offene Art. Das meine ich nicht abwertend, sie ist ein liebenswürdiger Mensch, weswegen ich bald von meiner selbsternannten Mission, heraus zu finden, wie sie wirklich tickt, eine andere Mission geworden ist. Die Mission, ihre Freundin sein zu dürfen. Ich wollte so sehr, dass sie mich mag und akzeptiert. Es lief gut, würde ich mal behaupten.

Daniel hatte keine Ahnung, wo sie ist. Bis jetzt zumindest, denn ein Blick auf sein Smartphone, dessen Bildschirm sich soeben erhellte, konnte ich die Information entnehmen, dass ihr Cousin Jake sie zur Schule fahren wollte. Seit wann kümmerte es meinen Bruder, von dem die Nachricht stammte, wo sich das Mädchen aus Daniels Träumen befand?

Dem Sunnyboy mir gegenüber schien es also wirklich Ernst um sie zu sein. Er wollte für sie da sein und schaltete deswegen seine Kumpels ein. Echte Freundschaft, denke ich.

BREATHE *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt