Bittersüße Rachegelüste

Dunkle Ungewissheit

Sie saß im Zug, als sich alle Gedanken in ihr ausbreiteten. Ein Anzugträger, so wie sie diese aufgeblasenen, arroganten Arschlöcher nannte, saß neben ihr und tippte Nachrichten in sein Smartphone. Sie starrte aus dem Fenster und betrachtete den leicht  vom Gewitter angetriebenen, dunkelblauen Himmel. Wie sie diese Tage hasste. Jeden Abend allein durch die Nacht, in einem Zug mit tausenden dieser Leute. Carrie bildete sich schnell ein Urteil über den Mann neben ihr. Er hatte eine Frau, dass zeigte ihr der Ehering, vermutlich mehrere Jahre schon, denn dieser war abgenutzt. Vermutlich besaß er Familie, denn er hatte einen Block in seiner Tasche, auf dem Zeichnungen und Schriften, eindeutig von einem Kleinkind, abgebildet waren. Dass er fremdging war ihr sofort klar. Der Ehering war öfter von seinem Finger abgestreift worden, dies bewies die Bräune seiner Haut, denn unter seinem Ehering war er fast genauso braun, wie oberhalb der Hände und Arme. Zudem befand sich ein Lippenstiftabdruck auf der Unterseite seines Hemdärmels. Er war ein Mann voller Lügen. Graue Haare umgaben seinen schmalen Kopf, auf dem eine Brille ihren Platz fand. Sein Kragen war verschoben und die Knöpfe seines weißen Hemdes waren nur halbherzig zugeknöpft worden. Carrie vermutete das er auf der Heimreise zu seiner Familie war. Was jedoch eindeutiger war, als alle anderen Beweise, war der Geruch des Parfüms, der ihn umgab. Blumig und süß. Ekelhaft. Gegenüber von Carrie saß eine Frau in ihrem Alter. Total vertieft in ihr Smartphone, starrte sie ab und an, zu Carrie herüber und lächelte. Die beiden kannten einander schon mehrere Jahre. Damals gingen sie auf die gleiche Schule und beide hatten zusammen Psychologie studiert. Danach trennten sich ihre Wege nicht zugleich, doch sehr oft, außer im Zug, sahen sie sich nicht. Das Licht im Zug flackerte und Carrie fielen fast die Augen zu. Eine ruhige und gelassene Stimme drang durch ihre Kopfhörer und beruhigte sie. Schon heute Morgen erfüllte sie ein ungutes Gefühl. Was war nur los mit Ajdan? Die beiden waren jetzt schon mehrere Jahre zusammen, doch in letzter Zeit schlich sich ein abscheulicher Gedanke in die ihren. Sie starrte gedankenverloren aus dem Fenster und lächelte kurz ihrer alte Schulfreundin zu. Beinahe hätte sie den Mann, der eilig durch den Flut rannte, gar nicht bemerkt. Er stolperte über des Anzugsträgers Tasche und blickte diesen missbilligend an. Doch dieser Moment war nur ein kleiner Augenblick von Bedeutung. Erst da bemerkte sie seine blutgträngte Hand und das Schreien des Babys hinter ihr, war kaum zu überhören. Erst lief alles wie in Zeitlupe, doch dann wurde die Panik, welche sich ausgebreitet hatte, schlagartig in den Vordergrung gedrängt. Ohne nachzudenken, sprang Carrie auf, ohne sich dessen Ausmaßes bewusst zu sein. Ein tränenerstickter Schrei durchbrach die schwarze Wand, welche sich vor ihren Augen gebildet hatte, als jemand sie mit festem Griff aus ihren Gedanken riss und sie zurück auf ihren Sitz beförderte.