Chapter 5: Claw

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Der Mond verschwand und Lirou erwachte aus dem traumlosen Schlaf. Der gewohnte Alltag nahm seinen Lauf. Sie ging, wie die anderen Schultage auch, um sechs Uhr aus dem Haus und machte sich auf den Weg nach Chester. Gelangweilt aber trotzdem mit Eifer erledigte sie ihre Pflichten.

Sie half Lia noch in dessen Garten. Danach musste sie sich im Bad die hartnäckige Erde von den Fingern waschen und unter ihren Nägel die kleinen Steinchen hervor pulen. Zeit war genug und da sie am morgigen Tag einen Deutschtest schreiben wird, bat sie ihre Mutter um Erlaubnis, dem Teddler einen Besuch abzustatten. Auf das „Ja" Siras lief sie mal wieder den bekannten Weg zur Stadt entlang.

Tedd begrüßte Lirou mit einem willkommenen Nicken, welches sie freundlich erwiderte. Als sie durch die engen, kleinen Gänge des Ladens schritt blickten sie einige der fleißigen Leser aufgeschreckt an. Sie wären so vertieft in ihr Tun, das Lirous plötzliches Auftauchen sie unterbrach. Sie ließ sich auf dem gewohnten Platz nieder und fing erneut an jedes einzelne Wort des Buches genauestens zu untersuchen. Nach einigen Seiten sah sie auf, um auf die Uhr zu schauen. Das sich die Verspätung von letztem Mal wiederhole wollte sie vermeiden. Ihre Augen hatten sich nach nur kurzer Zeit wieder an das Weitsehen gewöhnt und beruhigt sah sie, das sie sich noch nicht viel länger als eine halbe Stunde in der winzigen Bibliothek aufhielt.

Mit großer Verwunderung erblickte sie auch wieder den schwarzhaarigen Jungen, welcher mit seiner Brille auf der Nase auf ein Sachbuch fokussiert war. Ten erschien ihr eigenartig. Und zwar nicht Richtung besonders oder verrückt. Sie würde ihn eher Richtung Shin einstufen.

Irgendwann bemerkte sie wie er seine Lippen beim Lesen bewegte. Las er etwa tonlos mit? Fragen über Fragen gingen ihr wie bei seiner Freundin aus Penshaw durch den Kopf. Wie sonderbar dieses Trio doch war...

Seufzend wendete Lirou sich wieder dem Lehrstoff zu und als es dann endlich Zeit zu gehen war, hatte sie mehrere Seiten ihres Notizblocks mit ihrer krakeligen Schrift vollgeschrieben. Mit einem letzten Blick auf den immer noch so konzentrierten Ten und einem „Tschüss" Richtung Tedd machte sie sich auf den Rückweg nach Tarrin.

Doch kaum hatte sie den Laden verlassen, da öffnete sich die Tür hinter ihr erneut. Erschrocken drehte sie sich um und starrte einem langsam wohlbekannten Gesicht entgegen. Ten, der eben noch in einem blauen Sessel am Lesen war, lief nun an ihr vorbei und überquerte die Straße. Wieder war da dieses Gefühl. Sie fühlte sich verfolgt, aufgesucht aber auch gehetzt.

Ein weiteres Mal zuckte sie zusammen. Eine starke Hand hatte sich in ihre Schulter gekrallt und versuchte hartnäckig an ihre Aufmerksamkeit zu gelangen. Sie zog an ihr und die Spitzen Fingernägel krallten sich tief in ihr Fleisch. Lirou drehte sich um. Sie wollte sich ihrem Gegner stellen.

Doch, da war niemand. Dort, wo sie eben noch eine Person vermutet hatte war eine leere Fläche. Weit und breit war nicht ein einziger Verdächtiger aufzufinden.

Verwundert schaute sie sich jeden der Umstehenden genaustens an, doch sie alle schienen so beschäftigt, das keiner wirklich herausstach. Doch einen winzigen Augenblick später hielten ihre suchenden Augen an.

Sie waren auf den Jungen gerichtet, welcher halb hinter einer großen Eiche versteckt war und sie verdattert durch die tief-braunen Iriden anstarrte. Warum war er wieder bei dem Laden? Er war doch an ihr vorbei auf die Straßen geraten. Den Jungen genauso fest im Blick wie er sie, ging sie mit langsamen Schritten auf den wie am Boden festgenagelten Ten zu. Dieser verharrte in ein und der selben Position, bis sie schließlich nur noch einige Meter von ihm entfernt stehen blieb. Immer noch klebten seine Augen mit einem nahezu fassungslosen Blick auf ihrem Haupt.

Fragend schaute sie ihn an. Doch er schüttelte nur den Kopf, was seinen Gedankenfluss zu stoppen schien, denn er blickte sich hektisch um. Als sein Gesicht wieder zu Lirou zeigte zuckte er kurz mit den Schultern. Als wolle er ihr klar machen das er unschuldig war. Aber so langsam war das Mädchen davon überzeugt das Ten etwas mit dem Zwischenfall von eben zu tun hatte.
Entschlossen blickte sie ihn an, was jedoch nur einen Seufzer ihres Gegenübers auslöste.

Ein entferntes Krächzen unterbrach die unangenehme Stille zwischen den beiden. Auch die Auspuffe der stinkenden Monster auf der staubigen Straße gaben wieder ihre knatternden Geräusche von sich. Lirou hatte das Gefühl sie wäre gerade von einem Zeitstillstand erwacht. Die plötzliche Lautstärke hatte was in dem Jungen vor ihr ausgelöst. Mit schnellen Bewegungen drehte er sich um und lief mit hoher Geschwindigkeit über den Bürgersteig, welcher die Straße begleitete.

Mit einem Ruck begab sie sich auch wieder zurück in die Realität. Langsam schlurfte sie zurück nach Tarrin, denn ihre Mutter brauchte sie im Haushalt und auch ihr Magen hatte setzte große Erwartungen auf das kommende Abendessen.

Sira erwartete sie schon. Mit einem Kochlöffel in der Hand wartete sie geduldig darauf, dass das aufwärmende Wasser anfängt zu kochen.

„Hey"

„Oh, hallo Li. Hilfst du bitte beim Essen? Ich muss noch die Wäsche reinholen. Heute soll es wohl wieder regnen... Wobei ich auf ein weiteres Geschehen wie das letzte verzichten könnte"

Mit sofortiger Zustimmung nahm sie der Frau den Holzlöffel aus der Hand und stocherte damit in den, eben ins Wasser gelassenen, Nudeln herum. Dankbar drehte Sira sich um und begab sich zu der Leine, die vor der Tür um zwei Pfähle gespannt war.

Ein Stechen an ihrem Handgelenk riss sie aus ihrer Beobachtung und lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die sprudelnde Brühe direkt vor ihrer Nase. Winzige Tropfen des heißen Salzwasser spritzten aus dem Topf und trafen auf ihre Haut. Ein Zeichen die Temperatur herunter zu setzten und die Inhalte des Topfes leise vor sich hin köcheln zu lassen.

Nach einigen langweiligen Minuten hatten die Spaghetti die richtige Konsistenz und Lirou schöpfte heraus in die ausgebleicht-grüne Schüssel, in der ihr Abendessen nun herum dampfte. Sira war mittlerweile auch fertig mit ihren Aufgaben. Die Wäsche befand sich gefaltet und in einem grauen Korb verstaut im Wohnzimmer. Nicht zu früh, denn durch das Fenster war zu sehen wie die ersten Regentropfen durch die dicke Wolkendecke drangen und die trockene Erde berührten.

Peaceful DisasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt