53.| L i l l y

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Ich sitze immer noch bei den anderen, und nachdem Grace das Wort ergriffen hat, ist es vollkommen still. Niemand traut sich, auch nur einen Ton von sich zugeben. Ich fühle mich unwohl in dieser Situation, und es scheint so als würde Abbys Tod zwischen uns allen stehen. Alle anderen sind weiterhin still, doch dann beginnen sie wieder miteinander zu reden. Ich kann nicht beschreiben wieso, aber ich finde ihr Verhalten einfach unangebracht. Natürlich müssen sie nicht trauern, ich weiß dass nicht jeder erschüttert über Abbys Tod ist. Aber sie sollten zumindest Respekt zeigen und sich zurücknehmen, solange die Erinnerung an sie beinahe noch im Raum zu spüren ist. 

Ich kann nicht aushalten, dass es sie so wenig berührt, und voller Wut verlasse auch ich das Zelt. Angeschlagen gehe ich hinunter zum See, und lasse ihre lauten Stimmen hinter mir. Ich möchte einfach nur alleine sein, auch wenn es nur ein kurzer Moment sein wird in dem ich meine Gedanken ordnen kann. Die Luft ist warm, und auf meiner Haut bildet sich eine leichte Gänsehaut. Nicht weil mir kalt wird, sondern weil alle Emotionen auf einmal auf mich zurückfallen. Ich weiß nicht, was ich gegen sie tun soll, also entscheide ich mich dazu, sie einfach kommen und gehen zu lassen. Erschöpft setze ich mich ans Wasser, und sehe hinaus. Die Wellen erinnern mich an meine eigenen Gefühle, so wie sie auf und ab gehen. Mal stärker, und mal ganz sanft. So ging es mir auch, als meine Tochter auf die Welt gekommen ist. Ich hatte keine Ahnung was sich alles verändern wird. Das einzige was ich empfunden habe war Angst. Sie kam in Wellen, abwechselnd mit dem puren Glück was sich damals langsam in mein Herz geschlichen hat. 

Hinter mir nehme ich plötzlich Schritte war, und ich höre wie jemand immer näher kommt. Für einen kurzen Moment habe ich Angst, und nehme deutlich war wie mich mein Kopf dazu auffordert schnell aufzustehen und einfach davon zulaufen. Aber als ich mich umdrehe und Isla erkenne, macht mein Herz einen winzigen Sprung. Ich denke mir nichts bei diesem Gefühl und lächele sie einfach an. Sie setzt mich zu mir, und mein gesamter Körper entspannt sich. Eigentlich habe ich immer gedacht, dass ich alleine mit meinen Gedanken fertig werden muss. Ich hatte immer Grace an meiner Seite, aber sie war ständig mit sich selbst beschäftigt. Niemals hätte ich sie mit meinen Problemen noch zusätzlich belastet. Aber jetzt wo sich Isla zu mir setzt, fühlt es sich an als würde eine Last von meinen Schultern genommen werden, die ich schon viel zu lange mit mir umhertrage. 

"Ist alles okay?", fragt sie und folgt meinen Blick, der auf dem klaren Wasser haften bleibt. Ich könnte Isla alles erzählen. Ich könnte ihr von meinem verstorbenen Vater erzählen, oder dass meine Mum beinahe zusammenbricht wegen der großen Bürde die sie für mich und mein Kind auf sich genommen hat. Doch ich tue es nicht. Nicht weil ich ihr nicht vertraue, oder weil ich sie nicht belasten will. Ich erzähle Isla nichts, weil dieser eine Moment im Stillen vollkommen ausreicht. Es reicht aus, nichts zu sagen und einfach nur nebeneinander zu sitzen.

Die Zeit vergeht, und ich weiß nicht wie lange wir schon auf das Wasser hinausschauen ohne ein einziges Wort zu wechseln. Mein Körper ist kalt, und der Wind wird auch immer stärker, doch ich habe nicht das Bedürfnis aufzustehen und zu gehen. Langsam wird der Himmel dunkler, und die Gedanken in meinem Kopf endlich leiser. Sie verstummen nicht vollständig, aber es tut nicht mehr weh an sie zu denken. Noch immer kniet Isla neben mir, ihre Hände auf ihrem Schoss ruhend und vollkommen gelassen. Ich weiß nicht wie sie es macht, aber ihre gesamte Gestalt strahlt eine einzige Ruhe und Gelassenheit aus, wie ich sie noch nie bei jemandem erlebt habe. Es ist ein Gefühl, dass auch auf mich übergeht und beinahe fühle ich mich wie zuhause.         

Ich drehe mich zu Isla um und schenke ihr erneut ein Lächeln. 
"Danke", flüstere ich leise und Isla nickt nur stumm. Ihre Augen strahlen und auch ich werde von einer Welle puren Glückes durchflutet. Für diese Zeit, habe ich nicht an Grace gedacht, nicht an meine Familie oder an Abby. Das einzige was in den letzten Stunden einen Platz in meinem Leben hatte, war die unbeschreibliche Ruhe die ich empfunden habe. 

Isla und ich stehen auf, und bevor wir zu den Zelten zurücklaufen, sieht sie mich noch einmal an.
"Manchmal braucht man keine Worte", sagt sie ruhig und läuft dann zu den anderen zurück. Ich bleibe alleine am Wasser stehen, und atme ein letztes mal tief ein und aus, sicher dass ich gleich wieder in die Realität zurückkehren muss. Vermutlich wird sie mich wie ein Schlag ins Gesicht treffen, aber das waren die letzten Stunden definitiv wert. Durch solche Augenblicke wird mir bewusst, dass es sich lohnt zu kämpfen. Das es einen Sinn macht, niemals aufzugeben. 

Aus der Entfernung kann ich Dana erkennen. Sie steht bei Jason und ich spüre erneut, wie sich Erleichterung in mir ausbreitet. Ich bin unendlich froh, dass es ihm gut geht. Niemals könnte ich es mir verzeihen, dass meine Tochter ohne Vater aufwachsen muss. In diesem Moment wird mir jedoch auch bewusst, dass es sich gar nicht so anders anfühlt. Jason ist nur da, wenn es unbedingt sein muss. All ihre Erinnerungen macht sie ohne ihn, und ich weiß nicht wirklich was ich darüber denken soll. Vielleicht geht es ihr auch besser damit. 

Ich entscheide mich, einfach zu Jason und Dana zu gehen, denn am liebsten würde ich ihn einfach fragen wie es ihm geht. Auch für Jason muss es schrecklich sein, zu merken wie viele Menschen ihm diese grausame Tat unterstellen. Ich bin mir sicher, dass er Abby niemals verletzt hat. Egal, dass es jeder glaubt. Jason hat sich im Laufe der Jahre verändert. 

"Hey", bringe ich heraus und schenke beiden ein freundliches Lächeln. Jason wirkt erst verwirrt, doch dann lächelt auch er mich an. Dana sieht eher geschockt aus und ich habe keine Ahnung ob ich etwas falsches gesagt oder getan habe. Ihre Augen sind weit geöffnet und ihre Hände zittern nervös. Ich bin anscheinend unabsichtlich in ein ziemlich wichtiges Gespräch hineingeplatzt.  

"Sorry, wenn ich...", beginne ich doch Jason schüttelt nur stumm den Kopf, eher er sich in Gedanken eine Antwort zurecht legt.
"Alles gut", sagt er dann und legt Dana eine Hand auf die Schulter.

In diesem Moment wünsche ich mir nichts mehr, als dass er genauso für unsere gemeinsame Tochter da ist. 


𝒇𝒆𝒂𝒓 𝒐𝒇 𝒍𝒐𝒔𝒔| abgeschlossen ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt