38.| L i l l y

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Wir sind die gesamte Nacht unterwegs gewesen und immer wieder musste ich darüber nachdenken, dass Isla auch in dieses Camp gehen würde.
Die Vorfreude in mir wird immer größer und mein Herz macht jedes mal einen glücklichen Sprung, wenn wir einen weiteren Bahnhof durchqueren und so Grace ein Stückchen näher kommen.
Während der Fahrt habe ich ab und an zu Isla gesehen, und darüber nachgedacht wieso sie in dieses Camp kommt. 
Sie hat davon geredet, dass sie ihr Leben nicht im Griff hat.
Aber um ehrlich zu sein, wer hat das schon? 
Der Fahrer des Zuges schreit etwas von Endstation durch die Abteile und ich zucke automatisch zusammen.
Seine Stimme ist laut und durchdringlich, und aus irgendeinem Grund macht dieser Mann mir Angst. 
Ich sehe zu Isla rüber, doch sie schaut nicht zurück, sondern blättert weiter in ihrem Buch als hätte dieser Fahrer nicht gerade alle Fahrgäste zusammengeschrien. 
Wir erreichen die Endstation  und ich greife hektisch nach meinem Koffer, um endlich diesen Zug verlassen zu können.
Unser Zug hat an einem kleinen Bahnhof gehalten, der sich in einem etwas spärlichen Dorf befindet.
Ich habe das Gefühl, dass es hier kaum Menschen gibt und es verunsichert mich noch mehr.
Panisch sehe ich mich um, den ich habe Isla seit unserem Halt nicht mehr gesehen.
"Isla?", rufe ich und drehe mich einmal vollständig um mich selbst.
Der Bahnhof ist wirklich nicht groß und nach einigen Minuten kann ich sie immer noch nicht entdecken und beschließe, mich erst einmal auf eine Bank zu setzen.
Diese gesamte Reise nimmt mich doch etwas mehr mit als ich gedacht habe, und als ich mich setze verlassen vereinzelt Tränen meine Augen.
Ich bin einfach unheimlich erleichtert angekommen zu sein, denn Grace hat mir wirklich gefehlt.
Während ich auf dieser Bank sitze und all den Tränen freien Lauf lasse, sehe ich einen Typen der auf mich zukommt. 
Er ist stämmig und seine dunklen Haare fallen ihm in die Stirn. 
Ich habe das Gefühl ihn zu kennen, und als er mir näher kommt kann ich sein Gesicht erkennen.
Mein Herz rutscht mir in die Hose und für einen Moment habe ich das Gefühl alles um mich herum wird zusammenbrechen.
Als er vor mir steht und mich ansieht, habe ich keine Zweifel mehr dass er es wirklich ist.
Sein Blick wandert zu mir, und als ihm klar wird wenn er vor sich hat, erstarrt er mitten in der Bewegung.
"Lilly.", haucht er und fährt sich nervös durch seine Haare. 
Ich habe keine Ahnung was ich tun soll, geschweige denn wie ich antworten soll.
Die Erinnerungen an diese Nacht sind noch so präsent dass es mir beinahe den Atem raubt.
"Ich hätte nicht gedacht, dich irgendwann wieder zu sehen.", sagt er und setzt sich zu mir auf die Bank.
Kaum merklich zucke ich zusammen, und Jason rutsch sofort ein Stück weg.
"Was wird das?", frage ich und sehe ihn an. 
Ich bin mir sicher, dass er keine Antwort auf meine Frage weiß.
"Nachdem es passiert ist, habe ich immer wieder darüber nachgedacht, wie es dir geht.", sagt er dann und mein Herz macht kaum merkbar einen Sprung. 
"Jason.", nenne ich seinen Namen und halte dann für einen Augenblick Inne.
Sein Blick wandert erneut zu mir und ich fahre fort.
"Diese Nacht war eine der schlimmsten in meinem Leben.", sage ich und warte das Jason meine Worte verarbeitet.
"Lilly, ich wusste nicht...", sagt er dann und schüttelt verzweifelt den Kopf.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nicht gemerkt hat, wie sehr ich damals gelitten habe.
"Wie kannst du nicht mitbekommen haben, dass ich unter diesem Geheimnis zusammen gebrochen bin? Jedes verdammte mal wenn ich Abends weggehe, kommt alles wieder hoch.", flüstere ich und bemerke, wie mein Körper zu beben beginnt unter all dem unterdrückten Schmerz der letzten Jahre.
Jason sieht genauso verletzt aus, wie ich es bin. 
"Hätte ich es gewusst, hätte ich dich nie verlassen.", flüstert Jason nun und greift nach meiner Hand.
Es war eine Nacht und dennoch tut es noch so weh, mir vor Augen zu führen, wie viele Geheimnisse ich vor mir selber habe, aber auch vor Grace.
"Sie ist deine Tochter, verdammt!", schreie ich und schlinge meine Hände um meinen Körper.
Jasons Blick fällt erneut in sich zusammen und dann nickt er.
"Ich weiß.", flüstert er und lässt meine Hand los. 
Ich kann nicht glauben, dass er immer noch will das ich diese Lüge weiter leben muss.
"Ich kann das nicht mehr.", hauche ich und sehe ihn an.
Jason wirkt mit der gesamten Situation überfordert und ich bin sicher dass ich irgendetwas sagen muss.
"Meine Freundin denkt immer noch, ich würde eine Schwester haben.", schreie ich ihn an und ignoriere, dass ich gerade am gesamten Körper bebe. 
"Du willst ihr sagen, dass du dieses Geheimnis über zwei Jahre vor ihr hattest? Nachdem du wegen diesem Kind euere Beziehung für ein Jahr unterbrochen hast? Wofür war dann all das?", ruft Jason und rafft sich an seinen Haaren. 
Er sieht ziemlich mitgenommen aus, und es macht mir zu schaffen zu wissen dass er seine Tochter nie richtig gesehen hat. 
Er hat ihre ersten Schritte verpasst. Er hat sie nie "Dad" sagen hören. 
Für sie ist er eigentlich nicht mehr wichtig. 
All die Zeit in der ich schweigen musste, und niemand wissen durfte das sie meine Tochter ist, hat mein Herz geblutet. 
Jason steht auf und schenkt mir sein Lächeln. 
"Wieso bist du hier?", fragt er und reicht mir eine Hand, damit ich aufstehen kann. 
"Wegen Grace.", hauche ich und sehe ihn an. 
"Ich bin auch in diesem Camp.", sagt er dann und fügt ein "Sie kennt mich nicht.", hinzu.
Dann dreht er sich um und geht.
Ehe er ganz verschwindet ruft er mir ein "Überlege es dir gut." hinterher. 
Ich bleibe alleine zurück, mit all meinen Gedanken.
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich tuen soll. 
Dann stehe ich auf und greife nach meinem Koffer, denn ich kann erkennen dass Isla auf mich zugelaufen kommt. 
"Lilly. Ich habe dich schon gesucht.", sagt sie und aus irgendeinem Grund nervt mich ihre fröhliche Art in diesem Moment.
Isla schaut mich an und verstummt dann für einen Augenblick. 
"Alles gut?", fragt sie und ich nicke nur. 
Alles gut. 
Genau dass habe ich die letzten zwei Jahre auch behauptet. 
Was würde es ändern, wenn ich jetzt die Wahrheit sagen würde?


𝒇𝒆𝒂𝒓 𝒐𝒇 𝒍𝒐𝒔𝒔| abgeschlossen ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt