Kapitel 36

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Katharina erreichte die Berufsschule, stellte ihr Fahrrad ab und betrat das Gebäude. 

Sie überlegte verzweifelt, wo genau sich Martin und Clara aufhalten konnten. Bei der enormen Größe des Schulhauses und den vielen Räumen wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte, zu suchen. 

Sie öffnete einige Türen im Erdgeschoss, wo sie zuerst entlangging, fand allerdings nur leere Klassenzimmer vor. 

Schnell kam sie zu der Erkenntnis, dass ihre Suche auf diese Art keinen Erfolg bringen würde.

„Wo alles angefangen hat...", wiederholte sie nachdenkend ein weiteres Mal Martins Worte. „Mein Gott, unser Klassenraum.", kam es ihr plötzlich in den Sinn, worauf sie sich schnellstens auf den Weg dorthin begab. 

Bald stand Katharina vor Raum 02.01. Sie atmete noch einmal tief durch und ging hinein. 

Sofort stellte sie fest, dass der Arbeitstisch vor der Tafel mit einem großen Tuch abgedeckt war. Unter diesem lag etwas, das auf den ersten Blick aussah wie ein regungsloser menschlicher Körper.

„Clara!", rief Katharina entsetzt und stürmte auf den Tisch zu, um das Tuch zu entfernen.

„Oh, nein, soweit ist sie noch nicht.", sagte Martin und kam langsam und wie aus dem Nichts auf Katharina zu.

Sie zuckte zusammen und ließ das Tuch fallen. Anschließend richtete sie den Blick auf ihn, wobei ihr auffiel, dass er ein Paar Einmalhandschuhe trug.

„Was hast du Clara angetan?", wollte Katharina wissen.

„Keine Sorge, es geht ihr gut..., noch.", antwortete Martin gelassen. „Sie befindet sich im Nebenraum. Derzeit ist sie nur am Sprechen und an der Bewegung gehindert."

Katharina versuchte, in den Nebenraum zu gelangen, doch Martin hielt sie zurück.

„Nicht so hastig, meine Gute! Sie lebt ja noch.", sagte er. „Wie ich sehe, hast du unser Versteck gefunden. Du bist gar nicht so dumm, wie ich annahm."

Während er sprach, holte er langsam das Skalpell, das er neulich aus dem Raum entwendet hatte, hervor und richtete dieses auf Katharina.

„Ich musste doch eine Möglichkeit finden, um dich hierherzulocken.", fuhr er fort. „Deswegen musste ich deine Schwester auch bis jetzt am Leben lassen. Das war die einzige Garantie, dass du wirklich alles gibst, uns zu finden. Sicher kannst du dir denken, was euch nun bevorsteht, denn ich muss zu meiner eigenen Sicherheit um jeden Preis verhindern, dass du noch weiteren Personen etwas erzählst."

„Aber ich schwöre dir, dass ich alles für mich behalten habe.", beteuerte Katharina erneut.

„Das glaube ich dir nicht, nach allem, was allein heute passiert ist.", erwiderte Martin unbeeindruckt. 

Katharina ging ein paar Schritte rückwärts, bis sie an einen Stuhl gelangte, der neben dem Arbeitstisch stand. Martin folgte ihr jedoch und hielt weiterhin das Skalpell auf sie gerichtet.

„Es ist sowieso alles deine Schuld.", fuhr er fort. „Alles wäre nie so weit gekommen, wenn du mir von Anfang an die Wahrheit gesagt hättest. Dann würden wir jetzt nicht hier stehen und auf diese Art miteinander sprechen. Du hättest vor zwei Jahren einfach nur sagen müssen: ich find' dich scheiße und will nichts mit dir zu tun haben. Doch das hast du nicht getan und statt dessen nur zu deinen Gunsten ausgenutzt, dass ich so freundlich zu dir gewesen bin. Wie lange wäre das wohl noch so weitergegangen, wenn ich nicht von selbst gemerkt hätte, was für ein falsches Spiel du treibst? Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ich mich an jenem Tag gefühlt habe? Wahrscheinlich nicht. Ihr blöden Weiber glaubt doch alle, dass wir Jungs keine Gefühle haben, alles ganz leicht wegstecken würden und ihr deshalb mit uns so umspringen könnt. Wer fragt denn schon danach, wie wir uns fühlen? Natürlich niemand. Man hört nur ständig von Mädchen, die ermordet werden und um die jeder trauert, weil keiner danach fragt, was vorher abgelaufen ist. Dabei haben sie es doch gar nicht anders verdient, wenn sie getötet werden. Die Täter sind leider in den Augen aller immer allein an allem Schuld. Ich bin mir jedoch sicher, dass solchen Morden ebenfalls Ausnutzung und Enttäuschung zu Grunde liegen, wie in unserem Fall. Es ist wirklich eine Schande, dass darüber nie jemand etwas erfährt und immer nur das Offensichtliche nach Außen gelangt. Mir ist jedoch inzwischen völlig egal, wie alles hinterher dargestellt wird. Für mich zählt nur, dass ich dir das gebe, was du verdient hast."

AngstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt