Gedanken

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Es war ungefähr vier Uhr nachts, als meine Augen langsam zufielen und ich in die Dunkelheit driftete.

Zwei Stunden später riss der Wecker mich wieder heraus. Mist! Heute war Freitag und natürlich Schule. Noch einmal konnte ich meine Eltern nicht dazu bewegen, mich ohne einen Ton meinerseits zu Hause zu lassen. Leicht fluchend zog ich mich aus den Federn und schlurfte ins Bad.

Ich wollte nicht zum Unterricht. Natürlich nicht. Dort erwartete mich nichts anderes als Menschen, Fragen und Schutzlosigkeit. Irgendwann musste ich aber dort hin. Leider. Es machte mir Angst.

Im Bad ging ich meiner normalen Morgenroutine nach. Zähneputzen, Haare kämen, Gesicht waschen inklusive Hautkreme. Mehr war bei mir nicht drin. Abweisend betrachtete ich mich im Spiegel. Meine Augenringe waren dunkler als normalerweise und der Glanz in meinen Pupillen lies nach. Noch vor einigen Tagen leuchteten sie jeden Morgen. Heute waren sie matt und erschöpft. Das gleiche galt für meine Haare und meine Haut. Ich sah aus wie eine Vogelscheuche. Auffällig für jeden, der sich nur etwas genauer in Menschenmassen umschaute. Vielleicht würde ich doch ein bisschen Make-Up verwenden.  Als ich mich danach musterte, war es ein Wechsel. Zufrieden war ich aber noch nicht.

Ich warf einen Blick durch den Raum. Irgendwie musste ich eine Möglichkeit finden, schnell mein Aussehen zu ändern. Mein Blick glitt über eine Schere. Haare veränderten doch generell schon sehr viel an dem Aussehen einer Person. Es war mir oft aufgefallen. Meistens in der Schule. Mädchen kamen durch die Tür, ich lief hinter ihnen durch den Flur und hielt sie oft für neue Schülerinnen. Dabei hatten sie nur mal kurz ihre Haare geschnitten, geglättet oder gelockt. Nachdenklich blickte ich auf meine leicht gewellten Haare. Sie gingen mir bis kurz über den Bauchnabel. Sich von der unteren Hälfte zu verabschieden wäre ein ganz schöner Kontrast zu jetzt. Wenn ich das Frühstück wegließe, blieben mir noch 30 Minuten und so schwer konnte schneiden ja nicht sein. Mein Entschluss stand fest. Die Haare kommen ab.

Ich setzte die Schere gerade an einigen der vorderen Strähnen an, als meine Mutter durch die Tür kam.
„Oh, guten Morgen Ävelin. Hast du gut geschlafen?", sie hatte wohl nicht mit mir gerechnet. „ Ja war gut". murmelte ich und wich ihrem Blick aus. Jetzt eine Konversation mit ihr zu führen, hatte mir gerade noch gefehlt.
„Was machst du denn da mit der Schere?" Blöde Frage. Ganz blöde Frage. „Nichts.", antwortete ich und legte sie wieder zurück. „Ich hab nur über meine Haarlänge nachgedacht. Kurz ist grad im Trend." Verkrampft beobachtete ich meine Mutter im Spiegel und sah in ihrem misstrauischen Gesichtsausdruck. Dass sie mir nicht glaubte, war offensichtlich. Ich hielt mich nie an Andere und das wusste sie.  Auch das ich sie anlog, gefiel ihr gar nicht. Ich würde es natürlich ebenfalls liebend gerne vermeiden, aber mit: „hey, ich hab nen Mord beobachtet und probiere mich vor den Mördern und übernatürlichen Leichen zu verstecken", konnte ich nicht anfangen.  Nachdem mir die Situation langsam zu unwohl wurde, schlängelte ich mich an der Frau vorbei und huschte zurück in mein Zimmer. Ewig konnte das mit meinen Eltern nicht so weitergehen. Sie wussten, dass ich etwas verbarg und lange würden sie nicht mehr so tolerant sein. Es war schon ein Wunder, dass sie bis jetzt noch nicht mit dem Thema an mir hingen. Ich würde mit ihnen spätestens heute Abend reden. Davor musste ich den Schultag überstehen.

In meinem Zimmer packte ich den Rucksack und suchte meine Klamotten heraus. Ich nahm mir alte und einfarbige Sachen, die nicht auffielen und die auch nicht zu meinem Kleidungsstil passten. Ich fühlte mich zwar nicht besonders wohl, doch ich tat alles um wie ein anderer Mensch auszusehen.
In der Küche schnappte ich mir eine Wasserflasche und einen Toast. Dann verschwand ich mit Schuhen und Jacke auf den Weg zum Bus.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in der Magengegend breit und am liebsten wollte ich gleich wieder zurück. Zu der Bestätigung wehte eine kalte Brise durch die Straße und irgendetwas raschelte hinter mir. Schnell schaute ich nach hinten. Es waren nur Blätter.  Ich zwang mich weiterzugehen und versuchte ruhig und normal zu bleiben.
Schon als ich um die nächste Ecke bog und die Haltestelle vor mir sah, wusste ich, dass es ein beschissener Tag werden würde.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 30, 2022 ⏰

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