Stillstand

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Schützend hielt ich meine Hände vor mein Gesicht und starrte mit großen Augen auf den immer näher schreitenden Mann.
Wie es so kommen konnte, verstand ich nicht.
Wie der Boss, welchen ich hatte morden sehen, hier sein konnte, verstand ich nicht.
Wie ich einfach nur starr da saß, während der Tod auf mich zu kam, verstand ich nicht.
Mein Kopf war ein Brei aus vielen Gedanken, sie überschlugen sich, rückten in den Vordergrund und verschwanden wieder.
Nur ein Gedanken drückte sich immer stärker nach vorne und verdrängte alle anderen. Der Gedanken, dass es aufhören sollte. Der Boss sollte mich nicht erreichen, niemals. Immer und immer wieder dachte ich daran. Es bereitete mir Kopfschmerzen.

Als der Mann nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt war, schloss ich die Augen. Ich wollte nicht als letztes in meinem Leben ihn sehen. Er soll weg, er soll, er soll einfach nur weg. Ein komisches Gefühl machte sich in mir breit. Es war ein Kribbeln, welches die Kopfschmerzen ablöste und sich danach zu meinem Herz bewegte und bis zu den Füßen kroch. Fühlte es sich so an, wenn der Tod kurz bevorstand oder wenn man starb? Ich wusste es nicht.

Sekunden verstrichen und nichts passierte. Kein Messer, kein Blut, kein Schmerz. Langsam öffnete ich meine Augen. Der Mond lächelte mir entgegen, es hatte aufgehört zu gewittern und die Wolkendecke war aufgebrochen. Verwirrt wanderte mein Blick von dem Himmel vor mich. Was ich sah, konnte ich nicht glauben.

Vor mir stand ein Mann. Den Mund zu einem Schrei aufgerissen, ein Arm hing hinter seinem Kopf und holte zum Stich aus. In der Hand hielt er ein Messer. Der andere Arm war nur wenige Millimeter von meinem Hals entfernt und wollte danach greifen, dennoch tat er es nicht. Der ganze Körper hing in einer Position, in welcher er theoretisch nicht verweilen konnte, ohne umzukippen. Die Muskeln bewegten sich nicht. Die Haare bewegten sich nicht. Das Blut bewegte sich nicht. Es tropfte nicht auf den Boden, sondern blieb in der Luft stehen. Trotzdem flogen die Wolken weiter und einige Vögel jagten sich gegenseitig über den Himmel. Es war, wie wenn ein Teil der Welt eingefroren wird, alles um ihn herum aber weiter läuft.

Ohne lange zu fackeln, kroch ich unter dem Körper hervor und flüchtete so schnell es ging auf die andere Seite des Zimmers. Dort betrachtete ich die Situation kritisch. Meine Gedanken spielten verrückt. Es war so unreal. Einfach nur unmöglich. Der Stillstand strahlte einen Sog aus, welcher die Moleküle um ihn herum einzusaugen schien und eine Leere zurückließ. Dieses Nichts, welches von Hank ausging, zog mich in einen Bann. Es war beängstigend und faszinierend zugleich. Ich wollte mehr erfahren.

Ich verfolgte die Spur seines Blutes. Sie fing nicht, wie ich anfangs gedacht hatte, an der Türe an, sondern mitten im Raum vor meinem Kleiderschrank. Als hätte sich der Mann teleportiert. Vorsichtig beugte ich mich zu der Blutlache hinunter, welche zu meinen Füßen lag. Hier hatte Hank anfangs gestanden. Das Blut war nicht wie erwartet rot, sondern färbte sich langsam schwarz. Es stank nicht. Ich roch gar nichts. Ich war so fasziniert von der Färbung, dass ich langsam mit meiner Hand Richtung der Flüssigkeit wanderte. Es war kein direkter Befehl von meinem Gehirn. Etwas zog mich, leitete mich. Ich betrachtete die Spiegelung meiner Finger auf der nun schwarzen Oberfläche. Vorsichtig berührte ich sie.

Ein plötzlicher Schmerz zog sich bei der Berührung in meine Finger. Erschrocken wich ich zurück. Dort, wo meine Haut in das Blut getaucht war, wurde sie feucht, dann ganz warm und dann trocken. Die schwarze Flüssigkeit zog sich auf einmal minimal zusammen, breitete sich aus und explodierte dann zu Staub. Dieser rieselte zu meinem Fußboden, nur um anschließend von einer versteckten Kraft in Richtung Fenster getragen zu werden, wo er in der Dunkelheit verschwand.
Nachdem er in die Ferne geweht wurde, löste sich die Blutlache auf die gleiche Art und Weise auf. Es folgte Tropfen für Tropfen. Lache für Lache. Fleck für Fleck. Die Reaktion bannte sich einen Weg zu der immer noch starren Person in meinem Zimmer. Dort fing es an den Füßen an, arbeitete sich die Beine hoch und erreichte dann das Becken. Immer weiter zerfielen Knochen, Fleisch und Organe zu Staub, bis nur noch der Kopf übrig blieb, welcher schlussendlich ebenfalls seinem Körper folgte. Das Pulver kroch auf die Nacht zu und verschwand in dem großen Raum der Welt unter den Sternen und dem Mond.
Es war so, als wäre der Boss nie da gewesen.

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