18. Albträume & Geheimnisse

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Nach diesem Erlebnis hatte sie beschlossen, den Stein mit der Rune in den Tiefen ihrer Schublade zu verstecken und erst wieder hervor zu nehmen, wenn sie sich bereit dafür fühlte. Wenn sie sich nicht mehr vor dem fürchtete, was sie erwarten könnte, wenn sie ein weiteres mal das leuchtende Symbol betrachtete. Kurz darauf hatte sie das Bild auf ihrem Tisch, das ihre Mutter zeigte, nach unten geklappt - was einst für sie eine Art Zeichen des Guten in den Menschen war, erinnerte sie nun daran, was geschah, wenn man sich mit jemandem wie Elizabeth Nott einließ.

Wäre es vielleicht bei diesem einen Albtraum geblieben, hätte es sie nicht so verängstigt. Doch in den darauffolgenden Nächten wurde sie immer häufiger von der Rune heimgesucht - erst tauchte sie nur am Rande auf, während sie im Traum zurückversetzt wurde in eine Zeit, in der sie noch mit Blaise oder Draco im Malfoy Manor verstecken spielte. Es war eine Anordnung von Kerben in der Wand des Kerkers, in den Lilian sich gerade geflüchtet hatte. Erst am nächsten Morgen war ihr klar geworden, dass die zusammenhanglosen Striche doch ein richtiges Bild ergaben.

Ihre Träume wurden düsterer, drehten sich um Momente, die sie lieber vergessen hätte oder Szenarien, die sie nie erleben wollte. Lilian war immer froh über ihren tiefen, traumlosen Schlaf gewesen - diese Zeit war nun vorbei. Sie schätzte sich glücklich, wenn sie es schaffte, eine Nacht durchzuschlafen.

Auch an diesem Morgen sollte sie lange vor dem Klingeln ihres Weckers aufwachen. Müde rieb sie sich die Augen, während ihr Herz ihr bis zum Hals schlug, sie das Blut in ihren Ohren rauschen hörte und Adrenalin durch ihren Körper jagte. Erschöpft blinzelte Lilian, ehe sie sich den dünnen Schweißfilm von der Stirn wischte und aufstand, um sich die Zähne zu putzen.

Als sie das Bad verließ, fiel ihr Blick auf die Betten der anderen. Nott war wie immer lange vor Sonnenaufgang verschwunden - niemand wusste, wo sie hinging, und niemand fragte. Jeder wusste, dass der, der es einem Lehrer erzählen würde, es bitter bereuen würde. Nott war niemand, mit dem man sich anlegte, ohne eine Rückversicherung im Ärmel zu haben.

Ihre Augen blieben kurz an dem Bilderrahmen auf ihrem Tisch hängen, ehe sie mit leisen Schritten das Zimmer verlassen wollte. Es war alles wie immer, Bellatrix Black lächelte in die Kamera, während ihre schwarzen Locken vom Wind zerzaust wurden. Sie waren noch ein Merkmal, das Lilian von ihrer Mutter geerbt hatte, abgesehen von einem alten Fluch und einer Familie, die über Leichen ging.

Sie wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als sie etwas bemerkte. Eine dunkle Erinnerung, dass sie die Fotografie eigentlich verdeckt auf den Tisch gelegt hatte.

Vielleicht hatte sie sich das nur eingebildet, doch ihr Bauchgefühl sagte ihr etwas anderes. Bemüht, keinen Lärm zu machen, kippte sie das Bild auf den Rahmen, und verschwand dann aus dem Schlafzimmer, um Melissa und Miranda nicht zu wecken.

Beim Frühstück stocherte sie lustlos in ihrem Müsli herum. Es beschlich sie immer weiter das Gefühl, dass jemand das Bild wieder aufrecht hingestellt hatte - und zwar nicht sie selbst. Doch was machte das schon? Vielleicht war es nur Melissa, die ihre Nase mal wieder in die Angelegenheiten anderer hatte stecken müssen. 

Frustriert schob sie die Schüssel von sich und ließ ihren Blick durch die Halle schweifen, in der Hoffnung, etwas Interessantes zu entdecken, das sie davon ablenkte, wie verdreht ihr Leben geworden war.

Jemand am Gryffindortisch lachte laut auf, und Lilian erkannte die Stimmen der Weasley-Zwillinge.
Bei den Hufflepuffs hatte sich eine Gruppe rund um Cedric Diggory gebildet, die eng beieinander saß. Manche hatten ihren Sitznachbarn einen Arm um die Schulter gelegt, und sie schienen wirklich eifrig dabei, ihren Champion irgendwie zu unterstützen.
Ravenclaw war der stillste Tisch - doch saßen die jungen Adler keineswegs allein und stillschweigend an ihren Plätzen. Es lagen überall Bücher auf dem Tisch herum - ob es wirklich Schulbücher waren, war allerdings mehr als fraglich - und es wurde sich leise tuschelnd unterhalten.

Der Slytherintisch war eine Mischung aus diesen drei Varianten. Auch hier spürte man den Zusammenhalt wie bei den Hufflepuffs, selbst zwischen den einzelnen Gruppen und Freundeskreisen. Auch hier wurde gelacht und gescherzt, doch es gab auch leisere, konzentriertere Grüppchen. Das, was dieses Haus zusammenhielt, waren Ehrgeiz und Loyalität - zwei Eigenschaften, die widersprüchlicher nicht hätten sein können.

Lilian saß allein aus Loyalität Blaise und ihrer Familie gegenüber. Sie verstand die Dunkelheit immer noch nicht, die in ihr brodelte, während sie verzweifelt versuchte, den Hass und die Wut herunter zu schlucken. Vielleicht würde sie Blaise in Gefahr bringen, wenn sie keinen Abstand hielt. Vielleicht wäre es besser für ihn, sich langsam von der Lilian zu verabschieden, die er kannte, ehe sie verdreht wurde von irgendeinem finsteren Wahnsinn.

Und trotzdem tat es weh, zu wissen, dass er sich Sorgen um sie machte.

Das kommt davon, wenn du alle von dir stößt, flüsterte eine kleine, gemeine Stimme in ihrem Kopf. Du kannst eben nicht alles haben: Entweder du beschützt sie oder du bist nett zu ihnen.

„Phineas, halt einfach die Klappe", murmelte Lilian.

Ich habe nichts gesagt. Ehrlich nicht.

„Und das soll ich dir glauben?"
Ein kleines Grüppchen Gryffindor-Sechstklässlerinnen kam vorbei. Hinter vorgehaltenen Händen tuschelten sie, kicherten hämisch und sahen zu Lilian herüber. Mit einer entnervten Geste schob sie ihr Müsli endgültig weg und legte abrupt den Kopf auf die Tischplatte.

Kann es wirklich noch schlimmer werden?, fragte sie Phineas in Gedanken.

Wenn du wüsstest..., murmelte dieser.

Später am Morgen suchte sie den Raum der Wünsche auf. Sie musste anfangen, etwas zu unternehmen und sich nicht weiter im Selbstmitleid zu suhlen.
Durch Phineas Erinnerungen wusste sie, wie man den geheimnisvollen Raum betrat, und sie hoffte, dort das Notizbuch finden zu können. Beziehungsweise, Phineas hoffte das.

„Hier ist es nicht", fluchte sie leise, als sie die Stelle erneut umgekrempelt hatte, an der Phineas sie angewiesen hatte, zu suchen. "Sollten wir vielleicht woanders anfangen zu-"

Es muss hier sein! Ich habe es genau hier versteckt, ich bin mir absolut sicher. Such weiter!

„Phineas." Lilian schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Du brauchst einen neuen Plan."

Wir brauchen einen neuen Plan, korrigierte er besserwisserisch.

„Na schön. Wir brauchen trotzdem einen neuen Plan."

Minutenlang starrte Lilian in die Luft. Sie dachte nach, allerdings wusste sie kaum genug über Morgana und das Notizbuch, als dass sie irgendwelche Vermutungen anstellen könnte, was passiert war. Aber Phineas, stur wie eh und je, wollte ihr einfach nicht mehr Informationen geben.

„Hör zu, wenn du mir etwas mehr erzählen könntest...", nahm sie einen erneuten Anlauf.

Nein! Unter keinen Umständen, knurrte er durch imaginär zusammengebissenen Zähne.
Ich habe versprochen, dir das Nötigste zu erzählen. Das habe ich. Verlang nicht noch mehr Wissen über etwas so Dunkles und Gefährliches wie den Fluch oder das Notizbuch.

"Aber es ist mein Erbe, oder etwa nicht? Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was mit meiner Mutter, meiner Familie geschehen ist!", rief sie wütend.

Du weißt nicht, was es uns beide kosten würde, würde ich dir diese Dinge erzählen. Mich hat es bereits mein Leben gekostet, deines werde ich nicht auch zerstören.

Lilian seufzte. Phineas schien nicht zu verstehen, dass auch der Fluch ihr Leben zerstören würde, wenn sie ihn ließ. Aber vielleicht könnte sie anders an Informationen kommen.
„Dann über Morgana. Woher kommt sie, warum lebt sie noch, wie ist sie so? Phineas, ich kann nicht unwissend versuchen, meine Familie vor diesem Fluch retten!"

Ich habe Morgana erst ein einziges Mal getroffen, flüsterte er beinahe bedrückt.
Und über dieses eine Mal werde ich nicht sprechen, ist das klar?

„Du kannst doch nicht ernsthaft von mir erwarten-"

Oh doch, das kann ich.

Morganas Fluch || Buch EinsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt