34. Vermutungen

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Es war abwegig, aber durchaus möglich. Wenn Moody die Nachricht geschrieben hatte, hieße das allerdings, dass ein Professor es auf sie und Melissa abgesehen hätte - was Lilian sich lieber nicht allzu genau vorstellen wollte.

Sicherheitshalber ging sie auch die anderen Familien durch. Als sie die Aufzeichnungen der Macmillans aufschlug, stockte sie. Sie fühlte sich bereits wie eine Verräterin, weil sie überhaupt in Erwägung zog, dass A. M. aus Melissas Familie stammen könnte. Käme dafür jemand in Frage, hätte Mel ihr das ganz sicher gesagt - außerdem wollte sie nicht in ihren Familienangelegenheiten herumschnüffeln.

Langsam klappte sie das Buch wieder zu, ohne wirklich hineingesehen zu haben. Mittlerweile stand die Sonne hoch am blassblauen Himmel und leuchtete mit all ihrer Kraft durch die hohen Fenster der Bibliothek. Lilian erhob sich von ihrem Platz und begann in Gedanken versunken die Bücher wegzuräumen.

Was, wenn es wirklich Moody war?

Der Gedanke erschien ihr, je länger sie darüber nachdachte, immer unwahrscheinlicher. Der Zauberer war nicht nur ihr Professor - wenn auch ein sehr verhasster - sondern auch ein angesehener Auror. Jemand wie er wäre längst auffällig geworden, wenn er irgendetwas im Schilde führte.

Vielleicht war es auch jemand, der sich nur als Moody ausgab und hoffte, es ihm in die Schuhe schieben zu können, sollte Lilian damit zu einem Lehrer gehen. Niemand hatte den Absender der Briefe dazu gezwungen, seine Initialen unter die Texte zu setzen, also war es doch durchaus möglich, dass jemand ausnutzen wollte, dass der paranoide Mad-Eye nun für ein ganzes Jahr außer Haus sein würde. Wenn jemand beginnen würde, zu ermitteln, würde man zuerst nach infrage kommenden Personen mit den angegebenen Anfangsbuchstaben suchen - so wie Lilian es getan hatte. Man würde unweigerlich auf Alastor Moody kommen, und dieser Spur folgen, statt andere Absender infrage kommen zu lassen.

Eigentlich wäre das doch die perfekte Finte, um Lilian noch weiter gegen ihren Professor aufzubringen. Im Gegenzug hieß das aber auch, dass sie Professor Moody warnen musste, dass es einen Betrüger gab.

Sie beschloss, diese Überlegung auf ein andermal zu verschieben. Sie wollte nicht mit Moody reden, wenn sie es nicht unbedingt musste - und in den Ferien musste sie zum Glück nicht. Wenn ihre Theorie stimmte, musste sie sich nicht allzu sehr beeilen, schließlich war die Gefahr außerhalb von Hogwarts.

Sie bog in den Gemeinschaftsraum ein und wurde von der wohligen Wärme des Kaminfeuers empfangen, um das herum verteilt bereits einige Schüler in immergrünen Sesseln saßen. Das leise Prasseln ging in den wirr durcheinander tuschelnden Stimmen beinahe unter, genau wie die weit entfernten, hohen Töne der Selkies.

"Hey, Lilian", wurde sie von einer Gestalt mit leuchtend blauem, im schummrig grünen Licht seltsam leuchtenden Haar begrüßt, die in einem der etwas abgelegeneren Sessel saß, ein dickes Buch auf den Beinen.

"Hey", antwortete Lilian einsilbig, während ihr Blick durch den Gemeinschaftsraum streifte, auf der Suche nach einem honigblonden Haarschopf.

"Mel ist nicht hier", ertönte erneut Mirandas Stimme. "Und das ist vielleicht auch ganz gut." Sie klappte das Buch zu und stand auf.

Lilian zog skeptisch eine Augenbraue hoch. "So? Warum?"
Ihre Gedanken schwangen wie eins von Trelawneys weissagenden Pendeln zwischen der Situation und all den Fragen, die sie zu anderen Dingen hatte, hin und her.

"Weil ich mit dir über etwas reden muss. Unter vier Augen." Miranda durchquerte den Raum und öffnete die Tür zu ihrem Schlafsaal. Als Lilian ihr nicht folgte, gestikulierte sie auffordernd. "Komm, ich bringe dich schon nicht um."

Lilian verdrehte die Augen, ehe sie das Zimmer betrat.
"Worüber wolltest du mit mir reden?", fragte sie argwöhnisch.

"Ich habe dich und Mel auf dem Weihnachtsball gesehen."

Lilian wollte zu einer Rechtfertigung ansetzen, wurde doch sofort von Miranda unterbrochen.

"Sag gar nichts, ich habe kein Problem damit, dass Mel lesbisch ist. Aber weißt du, womit ich ein Problem habe?"

Lilian schüttelte stumm den Kopf, die Überraschung war ihr ins Gesicht geschrieben.

"Mit Mädchen wie dir. Eurer Arroganz, der ganzen Show, die ihr jeden Tag abspielt", Lilian wollte empört etwas einwenden, doch Miranda redete einfach weiter, "Aber Mel muss ihre eigenen Entscheidungen treffen. Kann ja sein, dass sie neuerdings alles für dich tut, aber ich kenne sie schon wesentlich länger, und sie ist der wohl gutherzigste Mensch, den du in unserer selbstsüchtigen Welt finden wirst. Also wenn du diese Reinblüter-Nummer mit ihr abziehst und sie verletzt, schwöre ich dir-"

Sie hätte wirklich nicht gedacht, dass ihr Gespräch in diese Richtung gehen würde, geschweige denn, dass sie von Mels bester Freundin nun eine Standpauke zu hören bekäme. Das war ungewohnt emotional von Miranda.
"Wird nicht passieren", unterbrach sie sie daher. "Versprochen."

"Gut." Miranda nickte, augenscheinlich in Gedanken versunken. Unruhig trat Lilian von einem Fuß auf den anderen, die Situation fühlte sich unangenehm an. Nach kurzem Schweigen hielt sie das Gespräch für beendet und wollte gehen, doch Miranda griff nach dem Ärmel ihres Umhangs.
"Mel sagt immer, dass du anders wärst, und vielleicht hat sie ja Recht. Aber sie macht sich Sorgen um dich. Du solltest mit ihr reden."

Ohne eine Antwort zu geben riss Lilian sich aus ihrem Griff und stürmte aus dem Gemeinschaftsraum auf den Gang hinaus. Sie wusste nicht, wohin, sie lief einfach los und folgte den unendlichen, verzweigten Gängen von Hogwarts.

Sollte sie wirklich mit Mel reden? Wäre es nicht besser, wenn sie auf Abstand bleiben würden?

Lilian seufzte. Warum musste alles bloß so kompliziert werden? Für einen kurzen Moment wünschte sie sich die Zeit zurück, in der sie noch Privatunterricht hatte, als der wichtigste Mensch in ihrem Leben noch Blaise war und ihre größte Angst die, dass das Ministerium ihre Experimente unterbinden würde. Damals war sie noch nicht magisch-schizophren und die Namen ihrer Eltern verfolgten sie höchstens in ihren Träumen. Und sie machte sich keine Sorgen um ein Mädchen, das sie erst seit einem halben Jahr kannte.

Sie wusste ja nicht einmal, ob sie sich in Melissa verliebt hatte, ob das flatternde Gefühl in ihrem Bauch überhaupt so viel bedeutete. Bei Merlin, sie wusste ja nicht einmal, wie es sich überhaupt anfühlte, in irgendwen verliebt zu sein, geschweige denn in ein Mädchen wie Mel, das vor Optimismus und Lebensfreude und Zuversicht überzuquellen schien. Sie war, wie auch Miranda bereits lange vor ihr erkannt hatte, etwas Besonderes, und Lilian wusste nicht, ob sie das überhaupt verdient hatte.

Mittlerweile, stellte sie fest, war sie auf einem der Innenhöfe angekommen. Sie schlung ihren gefütterten Winterumhang ein wenig enger um sich.

In diesem Moment hörte sie, wie ihr Name gerufen wurde und drehte sich um.

Hinter ihr stand Mel, eine grüne Mütze über die blonden, gewellten Haare gezogen, in denen sich bereits einige Schneeflocken verfangen hatten. Ihre Augen blitzten im hellen Winterlicht.

Lilian erstarrte in der Bewegung. "Hey", murmelte sie leise und schaute betreten auf den Boden.

Stille trat zwischen ihnen und jeder andere Laut wurde durch den fallenden Schnee erstickt. Lilian sah aus dem Augenwinkel, dass Mel sie über ihren grün-grau gestreiften, bis zur Nase gezogenen Schal hinweg beobachtete.

Schließlich war es doch Lilian, die zuerst das Wort ergriff. "Tut mir Leid", wisperte sie und sah auf. "Dass ich so bissig war. Ich denke, ich hatte einfach ... Angst?" Sie hätte sich am liebsten auf die Lippe gebissen, weil ihre Entschuldigung mehr wie eine Frage als eine Feststellung klang.

Mel verzog die Lippen zu einem verlegenen Lächeln. "Da gibt es nichts zu verzeihen, Lil. Ehrlich gesagt, ich hatte auch Angst." Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Lilian atmete erleichtert aus - sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie die Luft angehalten hatte. Ihr Atem hinterließ eine zarte, weiße Wolke in der Luft. Plötzlich hatte sie das Gefühl, unheimlich erschöpft zu sein.

Doch eins war klar: Sie musste mit Moody sprechen. Mel zuliebe.

Morganas Fluch || Buch EinsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt