24. Alte Magie

47 5 5
                                    

Es war schon lange her, dass Lilian sich nachts rausgeschlichen hatte. Früher war sie oft mit Blaise draußen gewesen, mittlerweile ging er oft allein mit Draco. Sie und Draco hatten sich seit dem Vorfall im Kerker der Malfoys nicht mehr gut verstanden, und Blaise hatte sich nie wirklich von seinem besten Freund trennen können - oder wollen. Der junge Malfoy konnte eine wirklich einnehmende Persönlichkeit sein, wenn er denn wollte, doch ansonsten verhielt er sich so, wie es von Geburt an eingetrichtert bekommen hatte: Wie ein arroganter Idiot.

Nicht, dass es bei Lilian anders gewesen wäre. Sie hatte schließlich eine ähnliche Erziehung genossen, wurde mit denselben Idealen groß. Der Wahn vom reinen Blut, die absolute Loyalität gegenüber der Familie, all das gehörte genauso zu ihr wie zu Draco. Blaise verstand das nicht, und Lilian hoffte, dass er das auch nie würde müssen.

Der einzige Unterschied zwischen ihr und Draco war, dass man sie rechtzeitig herausgeholt hatte aus dieser toxischen Familie, die ihren Verstand langsam indoktrinierte. Das schlimmste war, dass sie sie trotzdem nicht hassen konnte - im Gegenteil, sie liebte ihren Mutter trotz allem. Noch mehr, seit sie wusste, mit welchem grausamen Fluch sie in ihrer Jugend zu kämpfen hatte.

Melissa zog Lilian weiter den Gang durch die Regalreihen der Bibliothek entlang. Die kühlen Finger krallte sich beinahe um ihr Handgelenk, und Lilian klammerte sich an das Gefühl der Sicherheit, während die Dunkelheit um sie herum förmlich nach ihr zu langen schien.

Irgendwann standen sie vor dem schmiedeeisernen Tor, das den mondlichtdurchfluteten Teil der Bibliothek von der Abteilung trennte, in der man die Bücher aufbewahrte, die kein Schüler je lesen sollte. Die wenigsten hielten sich an das Verbot, doch Lilian wäre heute lieber zurück in ihr Bett gekrochen. Nicht, weil sie die Auswirkungen eines Regelbruchs fürchtete, sondern weil sie nicht wissen wollte, was sie erwarten würde. Antworten? Noch mehr Fragen? Wollte sie lieber süße, hoffnungsvolle Lügen hören, oder die schmerzhafte Wahrheit?

Mit einem leisen Klicken brach sie den Zauber, der die Tür verriegelt hielt. Er war simpel, genauso wie es simpel gewesen war, an dem schlafenden Filch vorbei zu kommen. Als hätte bereits jemand alles für ihre Ankunft vorbereitet.

Sie legte eine Hand an die kühle Klinke und hielt inne.

"Du fürchtest dich, nicht wahr?", flüsterte Melissa nach einer Weile. Lilian spürte eine federleichte Berührung auf ihrer Schulter.
"Es ist alles gut, ich bin da."

Es war eindeutig nicht gut. Lilian  zitterte trotz all ihrer Bemühungen. Der Fluch breitete sich aus wie ein Krebsgeschwür, machte ihre Bewegungen fahrig und ihre Gedanken sprunghaft. Ihr Blick schweifte zu Melissa, deren dunkelblonde Locken von einem Streifen Mondlicht in sanftes Silber getaucht wurden. Die hellgrauen Augen leuchteten gerade zu in der Dunkelheit, ein eigenartiger Effekt, entstanden durch das Zusammenspiel aus Licht und Schatten.

Lilian ballte die Finger zu Fäusten, doch das Zittern verschlimmerte sich durch die Anspannung mehr, als dass es besser wurde.

Mel fing ihren Blick auf und umschloss Lilians bebende Hände mit ihren.
"Ich bin da", wisperte die junge Hexe erneut. "Egal, was dich da drinnen erwarten wird, ich bin bei dir. Wir gehen das gemeinsam an, hörst du?"

Lilian nickte zaghaft, ehe sie sich aus Melissas Griff löste und die Hand wieder an die Klinke legte. Sie hätte sich erniedrigt fühlen müssen, weil sie mittlerweile auf die Hilfe der anderen Hexe angewiesen war. Es hätte sie zumindest beschäftigen müssen, beunruhigen, dass sie nach so kurzer Zeit so abhängig von ihr geworden war.
Doch es fühlte sich so furchtbar richtig an, dass es beinahe schmerzte. So richtig, wie es sich nicht einmal bei Blaise, ihrem Bruder, ihrer besseren Hälfte anfühlte, oder bei Phineas, der ihren Fluch bereits viele Male erlebt hatte und sie verstand wie kein anderer.

Morganas Fluch || Buch EinsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt