Drei

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Junas Anblick stach Hanna ein Messer ins Herz, auch wenn sie eigentlich sauer auf sie war. Sie sah komplett fertig aus, war blass im Gesicht und hatte wohl schon mehrfach heute geweint. Ob Hanna einer der Gründe dafür war? Sie musste es jetzt gleich wissen.

"Hast du meinen Anruf von heute morgen bekommen?" 

Gespannt starrte sie in Junas Augen, deren Funkeln längst einer müden Traurigkeit gewichen war. Juna antwortete gar nicht, nickte nur leicht, bevor sie ihren Blick von Hanna abwand, auf den Boden sah.Auch Hanna hatte keine Ahnung mehr, was sie sagen sollte. Eigentlich wollte sie sie zur Rede stellen, aber war das eine gute Idee? Juna ging es offensichtlich alles andere als gut, und so sauer sie gerade auch auf sie war, so empfand sie trotzdem etwas für sie, denn Gefühle verschwanden nicht einfach so von heute auf morgen. "Ich glaube, wir sollten reden.", erklärte sie daher mit möglichst sanfter aber distanzierter Stimme. Juna wischte sich mit einem Taschentuch die verschmierte Wimperntusche weg, so gut es eben ging, und stand nach einem tiefen Seufzer auf. "Komm, wir setzen uns auf die Couch.", schlug Juna Hanna vor. Kurzerhand waren da wieder die Bilder vom ersten Mal, als sie dort gesessen hatten, nur dass Hanna nun rechts von Juna war. "Hör zu, ich seh ja, dass es dir schlecht geht, also wenn du dir kurz Zeit nehmen willst und wir uns irgendwo treffen sollen, um dann in Ruhe zu reden, dann..."

"Nein, wir sind jetzt eh schon hier. Und ich weiß, dass ich dir Antworten schulde, Hanna." Juna schloss ihre Augen, schien sich für ein paar Sekunden sammeln zu wollen. Hanna richtete sich so auf, dass sie mit ihrem Oberkörper Juna zugewandt saß. "Bitte versuch mit nicht zu unterbrechen, wenn ich dir das alles erzähle. Ich weiß, dass es viel ist und auch keinesfalls einfach." Juna wollte anscheinend noch etwas hinzufügen, zögerte jedoch etwas. "Das ist es für uns beide nicht."

Da hatte Hanna wenigstens die Antwort auf eine ihrer vielen Fragen: Juna war es ernst, oder war es ernst gewesen - aber das war wieder eine anderes Fragezeichen in ihrem Kopf.

"Als wir uns das erste Mal gesehen haben, hatte ich mich doch mit Laura gestritten, erinnerst du dich?" Hanna nickte kurz. "Es ging um Daniel, meinen - " wieder seufzte sie. "Meinen Ehemann."

Und wieder spürte Hanna das metaphorische Messer in ihrer Brust. Sie hatte nicht viel Hoffnung gehabt, dass diese Tatsache nur ein Missverständnis war, aber dass Juna sie nun selbst nochmals bestätigte, das gab dem ganzen den Rest. 

"Aber es ist nicht so, dass ich ihm einfach fremdgegangen bin. Ja, wir sind offiziell noch verheiratet. Aber das ganze ist, wie gesagt, nicht ganz so einfach." Sie nahm einen Papppecher vom Couchtisch und nahm einen letzten Schluck des vermeintlichen Kaffees. "Daniels Vater ist ein ehemaliger Arbeitskollege meiner Mutter gewesen, die beiden waren enge Freunde. Eines Tages bekam meine Mutter über eine andere Kollegin die Info, dass Gerhard, Daniels Vater, im Krankenhaus war. Sie war noch am selben Tag bei ihm und bekam die Möglichkeit, mit einem seiner Ärzte zu reden. Gerhard war zu Hause plötzlich bewusstlos geworden und seine Frau hatte den Notruf gewählt."

Wieder machte Juna eine Pause. Die Geschichte schien ihr unglaublich nahe zu gehen. Hanna würde bestimmt gleich erfahren, wieso.

"Nach einigen Tests und Untersuchungen stand die Diagnose fest: ein Hirntumor." Die beiden sahen sich für einen Augenblick gegenseitig in die Augen, Hanna konnte eine Träne sehen, die über Junas Wange kullerte. Wie gern hätte sie diese jetzt weggewischt.

"Als es hieß, dass der Tumor zwar kein Krebs war, sich aber trotzdem auf das Kurzzeitgedächtnis ausbreiten könnte, machten sich alle Sorgen. Vor allem aber galt die Sorge in erster Linie Daniel, denn sollte er das Pech haben und ebenfalls mal dieses Schicksal erleiden, dann wollte man das wenigstens vorher wissen. Vielleicht könnte man ja behandeln, hatten sich alle gedacht. 

Also folgten Wochen und Monate an Untersuchungen und denselben Tests an Daniel. Erst dachte man, er wäre kerngesund. Doch letztes Jahr, bei einer seiner Routineuntersuchungen hier im Haus stellte sich heraus, dass er ihn auch hatte, den scheiß Tumor."

Die letzten Worte ließ Juna wütend in den Raum prallen und wischte sich mehrere Tränen aus dem Augenwinkel und von ihren Wangen. Hanna wollte etwas sagen, aber Juna hatte sie gebeten es nicht zu tun. Und das respektierte sie, immerhin erfuhr sie gerade eben sehr intime Details aus Junas Privatleben. Die Umstände waren gerade eben egal.

"In den ersten Wochen nach Daniels Diagnose haben wir noch gewitzelt, dass das ja nichts hieße. Mein medizinisches Wissen hatte mich zwar eigentlich strengstens gewarnt, so naiv an die Sache heranzugehen, aber meine menschliche Seite war naiv gewesen. Daniel und ich, wir hatten beide gehofft, dass es einfach so bleiben würde. Dass er zwar den Tumor hatte, er sich aber nicht auf sein Gedächtnis verlagern, nicht unser Leben einnehmen würde." Ein schiefes ironisches Lachen erklang und ließ Hanna erschaudern. 

"Das schlimmste aber kommt noch." Sie verschränkte ihre Hände auf ihrem Schoß, sah Hanna nochmal in die Augen, ließ dieses Mal aber verharren. "Nach ein, zwei Monaten checkte ich irgendwann, dass die ganzen Hinweise auf eine Affäre, nicht nur Indizien waren. Irgendwann wollte ich ihn nach der Arbeit abholen, das war ein Dienstag, und ging deshalb zu seinem Büro. Da hatte der gute Mann sich aber bereits mit seiner viel jüngeren Sekretärin vergnügt. Anscheinend war ich ihm nicht mehr genug."

"Wie blöd muss man denn sein, um zu denken, dass du nicht genug bist. Ich bitte dich.", platzte es aus Hanna heraus. Diese Worte schienen etwas aufzuheitern, denn Junas Mundwinkel gingen etwas nach oben, formten ein Lächeln. Juna war wirklich atemberaubend schön. Selbst so, komplett verheult und müde, so verletzlich wie sie sich gerade vor Hanna zeigte, wirkte sie trotzdem unglaublich stark und irgendwie sogar ehrlich. Schließlich merkte Hanna, wie ihre Hand in Junas lag und entgegen ihrer Erwartungen von heute vormittag hatte sie rein gar nichts dagegen.

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