Neunzehn

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„Und was wollen wir jetzt heute noch unternehmen, jetzt wo wir beide nichts vorhaben?", fragte Hanna , während ihr Kopf noch immer auf Junas Oberkörper ruhte. Sie spürte jeden ihrer Atemzüge, hörte Junas Herzschlag und wenn sie jetzt sprach, spürte sie die Vibration ihrer Stimme in ihrem Brustkorb widerhallen. „Ich könnte auch den restlichen Tag einfach so liegen bleiben, hier mit dir." Juna setzte sich halbwegs auf. „Andererseits wollte ich dich sowieso etwas fragen." Ihre Stimme wurde ernster, auch ihr Blick, als sie Hanna nun in die Augen sah. „Okay?", stutzte Hanna gespannt vor der Antwort, die nun alles sein konnte.
„Wie du ja weißt habe ich mein Medizinstudium auch erst ein Jahr nach meinem Abitur begonnen." Auch? Meinte Juna damit, dass Hanna nun Medizin studieren würde? Aber dabei hatte sie sich noch nichtmal dafür beworben, geschweige denn den Medizinertest für die Aufnahmeprüfung geschrieben oder sich gar dafür angemeldet. Immerhin war es gerade einmal Dezember und die Anmeldung für den Frühjahrstest im Mai längst vorbei. Den nächsten Termin konnte sie dann erst nächsten Herbst bekommen, doch dann müsste sie ja noch ein Jahr warten mit dem Studium, da das wiederum im Wintersemester, also im Oktober jährlich begann. Und außerdem befand sie sich nun schon im zweiten Jahr nach ihrem Abitur. Letztes Jahr hatte sie die Ausbildung zur Rettungssanitäterin in ihrer Heimatstadt gemacht und war dann nach Frankfurt gegangen, bevor sie schließlich wieder hier in ihrer Heimatstadt gelandet war.
„Hanna?", erklang Junas Stimme plötzlich und unterbrach ihren Gedankenwirbel abrupt. „Sorry, ich war da wohl kurz woanders. Was hast du eben gesagt?" Auch Hanna saß nun im Bett mit ihrem Oberkörper an die Wand hinter sich gelehnt, ihr eines Bein jedoch noch immer um Junas geschlungen.
„Ich meinte nur, dass ich jemanden kenne, der die TMS-Anmeldungen bearbeitet und ihn vor ein paar Tagen aus reinem Interesse einfach mal gefragt hab, ob denn noch die Möglichkeit besteht, sich anzumelden, obwohl die offizielle Frist ausgelaufen ist."
Musste sie das jetzt so spannend machen? Juna strich Hanna eine Strähne von der Stirn, ließ ihre Hand eine Sekunde länger auf Hannas Wange verweilen, bevor sie endlich weiterredete. Ein Lächeln auf den Lippen, das schönste, das Hanna auf dieser Welt bisher kannte, zierte ihr Gesicht. „Du kannst dich bis morgen noch bei ihm melden, am besten telefonisch, und dich ausnahmsweise noch anmelden für den Frühjahrstest." Juna setzte sich nun ganz auf, zog mit ihrem rechten Arm Hannas linkes Bein noch ein bisschen näher an sich, drehte sich schließlich mit ihrem Oberkörper nach links zu Hanna. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, während Hanna noch gar nicht die richtigen Worte gefunden hatte. „Ich hatte erst überlegt, ob ich das wirklich tun sollte, also ihn fragen. Immerhin weiß ich, dass dein moralischer Kompass nie ausgeschaltet ist und du keinen Eigenvorteil aus irgendetwas ziehen würdest, wenn es anderen Kandidaten gegenüber unfair wäre. Deshalb wollte ich dich eigentlich erst fragen, aber dann konnten wir ein paar Tage lang ja nicht telefonieren, wie du weißt. Naja, und dann hab ich ihn einfach trotzdem gefragt." Juna streichelte Hannas Unterarm sachte, bevor sie nochmal sprach. Diesmal wirkte ihre Stimme so kleinlaut, wie Hanna es von Juna gar nicht gewohnt war. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse dafür.", flüsterte sie und zog die Augenbrauen zusammen, sah Hanna mit ihren blauen Hundeaugen an. Diese sagte jedoch nichts, nahm plötzlich Junas Gesicht in ihre Hände und legte ihre Lippen auf Junas. Dann lehnte sie ihre Stirn an Junas und konnte ein breites Lächeln nicht länger für sich behalten. „Danke.", flüsterte nun Hanna. Nicht jedoch, weil ihre Stimme versagte, sondern weil einfach nicht mehr gesagt werden brauchte. Und dann wollte sie nicht länger darüber nachdenken, ob es zu früh war, ob es dumm war oder ob es Juna überfordern würde. Nein, sie wollte sich nicht weiterhin stoppen müssen, wenn sie diese Worte dachte. Denn sie meinte jedes einzelne davon genauso.
„Ich liebe dich, Juna." Hannas Augen wurden ungewollt glasig, ihr Lächeln noch breiter, falls das überhaupt möglich war. Doch damit war sie nicht die einzige. „Ich dich auch. Ich habe noch immer manchmal das Gefühl, ich müsste mich kneifen, um sicherzugehen, dass ich das nicht alles träume." Sie schloss den kleinen Spalt zwischen ihren Gesichtern erneut und meinte für einen Augenblick, ein riesiges Feuerwerk zu hören. Hanna spürte dieses Kribbeln in ihrem Bauch, aber nicht das aus Nervosität. Nein. Dieses Knistern war den Worten geschuldet, die sie eben gehört hatte. Und auch ein bisschen der Tatsache, dass es draußen blitzte und donnerte. Dort draußen stürmte es, der Regen floss in Strömen am Fenster hinunter und tauchte diese Kleinstadt, Hannas Heimat, in diese gewisse Atmosphäre. Dieses Gefühl, das Hanna immer mit Juna assoziierte. Dieses Geräusch, das sie wohl für den Rest ihres Lebens immer an Juna erinnern würde. Aber wenn sie mal ehrlich war, dann war diese Stadt längst nicht mehr ihre Heimat. Keine Stadt war das mehr. Diese wunderschöne, so unglaublich liebevolle, vertraute und mit der Zeit nur noch schöner werdende Frau vor ihr. Sie war es - ihr neues Zuhause.

KleinstadtregenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt