Elf

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Vier Tage war es jetzt her, dass Juna gut in Kapstadt angekommen war. Hanna konnte sich die ersten Tage kaum ruhig schlafen legen, wurde geplagt von Sorge und diesem herzzerreißenden Gefühl, das sie Juna vermissen lies. Aber mal ganz ehrlich: War es nicht irgendwie mittlerweile wirklich traurig, dass Hanna seit Tagen nichts anderes als das mehr spürte? Sie sollte doch froh sein, mehr Zeit mit ihrer Mutter verbringen zu können, ihre Oma im Heim zu besuchen und auch ihre Hunde wieder bei sich zu haben. Sie hatte doch auch noch ein eigenes Leben - nicht, dass sie jetzt Juna einfach vergessen würde, denn das konnte sie weder, noch wollte sie es überhaupt. Aber es war Zeit, sich mal aus dem Bett zu hieven, ordentlich zu duschen und mal was mit dem Tag anzufangen, was ordentliches daraus zu machen. 

Da sowieso momentan der Winter über ihrer Heimatstadt einbrach, machte Hanna sich nach dem Frühstück fertig für einen Spaziergang und ließ bewusst ihre Kopfhörer zu Hause liegen, denn sie wollte die Welt um sich herum mehr wahrnehmen, offen für die kleinen Dinge werden, mehr als sie es in den letzten Monaten war. Immerhin machten nicht nur die großen, aufregenden Momente das Leben zu dem, was es war. Meistens waren es die kleinen, die man beinahe übersehen könnte, war man nicht geerdet genug, um einen erwartungslosen Blick an den Tag zu legen. 

Die eisige Novemberkälte fraß sich so langsam auch in Hannas Hände, obwohl diese in ihren flauschigen Jackentaschen noch recht lange warm gehalten wurden. Sie hatte sich auf den Weg in die Innenstadt gemacht, die im Vergleich zu Frankfurt wirklich sehr sehr übersichtlich war, beinahe winzig schien. Kaum bemerkte sie die kalten Finger an ihren Händen, nahm sie auch die Eingangstür neben sich in einem der Läden in der Fußgängerzone war: "Café DaVinci" meinte der Schriftzug, der sich in dunklem gold über die dunkelgrün eingerahmten Fensterfronten legte. Hanna musste kein zweites Mal darüber nachdenken, da hatte sie einen Fuß in die warme Atmosphäre gesetzt. Die Möbel waren antik gehalten, Ledersessel und Teppiche verliehen den Räumlichkeiten die nötige Gemütlichkeit, die man in dieser Jahreszeit unterbewusst überall zu suchen schien. Viele Tische waren belegt, ein paar Familien, ein paar Freundesgruppen, aber auch eine Hand voll Pärchen machten es sich an diesem Dienstagmittag hier bequem und entflohen den Minusgraden auf der Straße. Den leichten Stich in ihrem Herzen schluckte sie runter, denn heute hatte sie ja eine Mission: zufrieden mit sich selbst sein, sich selbst mehr Aufmerksamkeit schenken und wieder so richtig lieben lernen.

Sie setzte sich auf einen freien Sessel, legte ihren Mantel und ihre Mütze auf dem, der ihr gegenüber stand, ab und griff schließlich zur Karte. Ein warmer Tee wäre jetzt recht gut. Zu Hannas Glück gab es zur Mittagszeit ein paar Suppen zur Auswahl und Hanna konnte nicht widerstehen. So saß sie wenige Minuten später mit einer warmen Kürbissuppe und einer Tasse dampfendem Weihnachtstee hinter dem Fenster, vor dem sie noch vorhin in der Kälte gefroren hatte, und arbeitete die letzten großen Ereignisse auf. Ihre Hoffnung bestand nämlich darin, die großen Baustellen in ihrem Kopf fertig zu stellen, um die kleineren Dinge im Leben erkennen und schätzen zu lernen.


"Manchmal kann man eben nichts mehr tun, egal wie sehr man es auch versucht." Juna hatte einen schweren Tag gehabt. Ein kleiner Junge, gerade einmal sieben Jahre alt, war heute in ihrer Anwesenheit verstorben. Sie hatte versucht, es ihm so schön wie möglich zu machen. Er hatte keine Familie gehabt, seine Eltern wurden auf der Straße erschossen und Geschwister hatte er auch nicht. Juna hatte Stunden damit verbracht, ihm auf Englisch die Angst vor dem Tod zu nehmen, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken, um für ihn da zu sein. Hanna wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, aber sie wollte eigentlich auch nichts sagen. Sie wusste, dass Juna verstand, was sie dachte, und das reichte ihr völlig. Das war einer der Momente, in denen sie den größten Respekt vor Juna hegte, denn egal was man Ärzten auch nachsagen mochte, nur wenige Leute würden ihren Job in solch einer Situation so liebevoll ernst nehmen und das Wohl des Patienten so sehr vor das eigene stellen. Ein paar Augenblicke noch schwiegen sie, aber es war keineswegs unangenehm, nur bedurfte es eben einfach keinerlei Worte. Dann erkundigte Juna sich, wie es Hanna heute so ergangen war. Und dann folgte ihre Routine, die wirklich fast jeden Abend - ausgenommen diejenigen, an denen Juna nicht konnte, oder Hanna etwas unternahm - in immer derselben Reihenfolge stattfanden. Irgendwie schon echt ätzend, dachte Hanna, bevor sie auch an diesem Abend schlaflos im Bett lag und nicht wusste, was sie denken sollte, ob sie sich für Juna mehr freuen als sie traurig über ihre Abwesenheit sein sollte. War das egoistisch? 

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