"Warte auf mich, Mary!", meinte Martha, als wir auf dem Klostergelände um die Wette liefen und ich sie abgehängt hatte. Ich trug ein langes, blütenweißes Kleid, das einen hochgeschlossenen Kragen besaß und aus Seide war, wenn ich mich nicht irrte. Wir rannten in den weitläufigen Wald, der sich ganz in der Nähe des Klosters "St. Stefans Herz" befand, in das mich meine Mutter Marie de Guise bringen ließ, als ich gerade einmal sechs Jahre alt gewesen war. Nun wartete ich hier auf meine Rückkehr an den französischen Hof, wo ich Frankreichs Thronfolger, Francis aus dem Hause Valois, heiraten sollte. Ich war schon früher als Kind am Hofe Frankreichs gewesen, aber ich konnte mich an Francis nur sehr schwer erinnern.
"Mary, Martha, es gibt Frühstück!!!", rief da Mutter Sabrina vom Waldrand her, und ich wollte die zwölfjährige Martha gerade an die Hand nehmen, als ich Hufgetrappel hörte und das Banner der Engländer mit der Tudorrose zwischen den Bäumen aufblitzen sah. Es war normal, dass hier englische Reiter vorbeikamen. Ich hatte dennoch auf einmal ein leichtes Ziehen in der Magengegend, aber ich schob diese Reaktion auf meine bevorstehende Verbindung mit Frankreichs Thronfolger.
"Komm Martha, es gibt was zu essen!" lächelte ich und ging dann zusammen mit dem kleinen Mädchen, das ich an der Hand genommen hatte, zum Kloster zurück. Ich setzte mich schweigend neben Martha, deren feuerrote Locken im Sonnenlicht leuchteten, und faltete die Hände zum Tischgebet, so wie ich es bei den Nonnen gelernt hatte. Als wir Kinder waren, hatten Francis und ich uns bisweilen in Zeichensprache unterhalten. Beim Gedanken an meine Verlobung zog sich mir vor Nervosität der Magen zusammen, so dass ich keinen Löffel von Mutter Sabrinas Haferbrei essen konnte. Würde Francis mich lieben? Würde ich ihn lieben? Ich sah in jenem Augenblick hoch, als Martha gerade einen Löffel Haferbrei aß und gleich darauf fürchterlich zu röcheln begann. Alle sprangen hastig auf und schrien panisch durcheinander, aber ich konnte nur entgeistert die sterbende Martha anstarren und flüstern: "Bitte nicht ..." Nur am Rande nahm ich wahr, dass ich von Mutter Sabrina schnell in die Vorratskammer geschoben wurde und wie sie mich einschloss. Als ich in völliger Finsternis hockte, versuchte ich mich wieder zu beruhigen, was mir jedoch nicht wirklich gelang. Als ich Schreie vernahm, wurde mir vor Elend ganz übel und ich musste mich zusammenreißen, um nicht ohnmächtig zu werden. Ich war Mary Stewart, Königin von Schottland, verdammt nochmal. Etwas Nasses tropfte auf einmal von oben auf mich herab, und als ich meinen Blick zur Decke, die aus breiten Holzbrettern bestand, erhob, hätte ich beinahe laut aufgeschrien, denn ich sah zwischen den Holzdielen über mir Mutter Sabrina liegen, die mich aus toten Augen anstarrte. "Sie ist nicht hier, Kommandant Starbon!", erklang eine derbe Männerstimme und jemand trat gegen irgendwas. Ich wagte nicht zu atmen und kniff instinktiv meine braunen Augen zusammen, als das Holz über mir knarrte. "Brennt alles nieder und findet mir diese schottische Hure!!!", ordnete eine andere männliche Stimme barsch an und ich hörte, wie sich Schritte entfernten.
Ehe ich wusste, was ich da überhaupt tat, hatte ich meinen langen Rock gerafft und ihn in meinem Gürtel festgesteckt. Nun kletterte ich flink die Wand der Vorratskammer, die aus grob behauenen Steinen bestand, hinauf. Als ich dann endlich an dem kleinen Fenster, das glücklicherweise nicht verglast war, angelangt war, lief mir der Schweiß in Strömen über das Gesicht und ich war den Tränen nahe. Ich zwängte mich hindurch und sprang auf den grasbewasenden Boden auf der anderen Seite der Klostermauer. Mir war, als hätte man mir gerade das Herz aus der Brust gerissen. Ich musste nach Frankreich, sofort. Es spielte keine Rolle, ob ich Francis liebte oder ob er mich liebte. Ich würde den Thronfolger von Frankreich so oder so heiraten müssen. Ich rannte so schnell wie möglich zu einem Bauernhof in der Nähe des Klosters und borgte mir dort einen schwarzen Hengst. Im Galopp ritt ich nach Dover und hoffte inständig, dass man mich nicht als eine Prinzessin mit einem Anspruch auf die englische Krone erkannte.
Als ich in Dover ankam, tauschte ich das Pferd gegen einen schwarzen Reitumhang und schwarze Lederstiefel ein. "Man erzählt sich, dass Mary, die Thronräuberin, von königlichen Soldaten getötet worden ist! Ich hoffe sehr, dass diese Metze tatsächlich tot ist! Den Schotten ist nicht zu trauen und man sollte sie meiner Meinung nach allesamt umbringen!!!", grölte ein dicker Mann mit einer Glatze und ärmlicher Kleidung, und ging dann zusammen mit einem kleineren Mann in eine Schenke, die sich direkt vor mir befand und ziemlich zwielichtig wirkte. Mein Magen erinnerte mich plötzlich daran, dass ich heute noch gar nichts gegessen hatte, dank des Giftanschlages. Oh Mann, heute war echt nicht mein Glückstag. Mit gesenktem Kopf trat ich in die Schenke und suchte mir einen Tisch in der allerhintersten Ecke des Raumes, damit ich nicht erkannt wurde. Die Schenke war laut und schmutzig, aber ich hatte Hunger und wollte beim Thronfolger Frankreichs einen guten Eindruck machen, nur leider war ich, wenn ich einen Bärenhunger hatte, echt keine gute Gesellschaft. "Danke schön!", meinte ich, als mir der gutmütige, kräftige Wirt eine heiße Kartoffelsuppe und einen Krug Dünnbier brachte. Während ich meinen leeren Magen mit leckerer Suppe und noch leckererem Dünnbier füllte, lauschte ich gebannt dem Gerede der anderen Gästen. "Ich habe gehört, Francis Valois wäre eine Zwerg und hätte eine riesige Nase! Er soll zudem noch einen gigantischen Buckel und krumme Beine haben!", meinte ein grauhaariger, ungefähr siebzigjähriger Hüne, der in einem grauen, langen Mantel und mit einem ebenso mausgrauen Umhang an einem Tisch ganz in meiner Nähe umringt von fünf weiteren Männern saß. Ich hatte auf einmal einen riesigen Kloß im Hals und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, denn auf gar keinen Fall wollte ich einen Zwerg ehelichen und auch mit keinem schlafen. Was wenn ich am Ende in einer unglücklichen Ehe festsaß, die einzig und allein Schottland und Frankreich von Nutzen wäre? Ich musste auf der Stelle hier raus, sonst würde ich noch komplett durchdrehen. Ich winkte den Wirt herbei und gab ihm als Bezahlung meinen goldenen Rubinring, den mir meine Mutter einst schenkte. Als ich dann wieder an der frischen Luft war, nahm ich mir einen kleinen Augenblick, in dem ich innerlich wenigstens etwas zu Ruhe kommen konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich Francis in den Jahren, die ich im Kloster verbracht hatte, so sehr verändert haben sollte. Die Sache war klar! Ich würde nach Frankreich übersetzen und Francis heiraten, auch wenn es mir das Herz brach.
Wie durch ein Wunder gelang es mir, unbemerkt auf ein Schiff zu gelangen, das Wolle nach Frankreich brachte. Ich wusste gar nicht, dass Frankreich mit Wolle handelte, und dazu noch mit seinem Erzfeind. Ich versteckte mich rasch im stickigen, riesigen, düsteren Laderaum hinter einem großen Wollballen und betete, dass die Engländer mich nicht fanden und umbrachten.
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Queen of Scotland
FanfictionWas wäre, wenn man einen Menschen so sehr liebt, dass man alles für ihn täte? Meine Geschichte wurde schon so oft erzählt, aber nie von mir selbst. Es ist das Jahr, in dem die Engländer mich im Kloster fanden!