Amnesie- Kurzgeschichte

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Amnesie

Sie stand vor dem Kaffeekocher und wusste nicht was tun. Was war das? Wofür nutzte man das? Leere und Traurigkeit breitete sich in ihr aus. Sie schaffte es nicht, einer ihrer herumschwirrenden Gedanken zu fassen. Ihr Kopf war voll mit Wörtern und Erinnerungen, doch sie schaffte es nicht, einen einzigen zu fassen zu kriegen. Das metallische Gerät kam ihr bekannt vor. Sie spürte es. Wahrscheinlich hatte sie es schon hunderte male genutzt. Doch Name und Nutzung fielen ihr nicht mehr ein. Langsam liess sie den Blick zu dem Mann, der an der Küchentrese sass, schweifen. Er schaute sie erwartungsvoll an. ,,Ich weiss es nicht'', gab sie ganz leise zu. ,,Hey, Schatz, kein Problem. Schau mal die anderen Geräte an. Wetten, eines kennst du. Vielleicht das? Das hast du noch von deiner Mama.'' Sie schaute auf eine runde Form, die an den Rändern nach oben gebogen war. Langsam streckte sie ihre dünnen Finger aus und nahm das Ding in die Hand. Sie roch daran. Wonach roch es? Hmm.. Es roch lecker, zwar ein bisschen metallisch aber auch ein bisschen süss. Doch wofür das Gerät genutzt wurde, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Verzweiflung stieg in ihr hoch. Wie konnte es sein, dass sie alles vergessen hatte?

~

Ich beobachtete, wie sie die Kuchenform wieder von ihrer Nase nahm und sie auf die Abdeckung legte. Sie sah so traurig aus. So zerbrechlich. Seit dem Unfall war sie noch dünner geworden als sie vorher schon war. Doch sie sah immer noch wunderschön aus. Vor allem ihre blonde Haare und die blauen Augen gefielen mir sehr gut. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne sie zu leben. Sie tat mir so leid. Ich konnte ihr fast nicht in die Augen sehen, denn wenn ich das tat, sah ich ihren Schmerz, und das hielt ich fast nicht aus. Ich hasste den dritten Mai so sehr, denn da war es geschehen. Ein besoffener Volltrottel war auf der Autobahn in die falsche Richtung gefahren und hatte sich damit selbst das Leben genommen und meine Frau leider schwer verletzt. Danach lag sie drei Wochen im Komma. Als sie aufwachte, litt sie an starker Amnesie. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Nicht mal an mich. An jenem Tag, als sie aufwachte und mich nicht mal erkannte, brach ich vor Schmerz zusammen. Es tat so weh. Diese Schmerzen sind im Inneren und gehen so tief, das konnte man sich gar nicht vorstellen. Ich hatte sie aber trotzdem nach Hause mitgenommen. Zu unserem Haus mit dem kleinen Garten, den sie früher immer so gerne gepflegt hatte. Ich liebte sie immer noch, auch wenn sie mich nicht mehr lieben konnte.

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Am Tresen sass ein Mann. Sie wusste seinen Namen nicht mehr. Es war ihr aber auch egal. Sie kannte ihn nicht. Er war ein Fremder für sie. Alle Menschen auf dieser Welt waren plötzlich fremd für sie. Sie wusste zwar, dass sie sie alle mal geliebt hatte. Ihre Mutter, ihr Bruder, ihr Mann. Doch jetzt nicht mehr. Sie hatte nur noch sich selbst. Sie war ganz allein. Ein breiter vertrauter Kloss bildete sich in ihrem Hals. Bitte nicht weinen. Nicht jetzt. Nicht vor einem Mann. Schnell wandte sie den Blick von dem Fremden ab und lies ihn durch die Küche schweifen. Ah, das kam ihr bekannt vor. War das nicht für...Für...

Sie stand vor einem Wasserkrug und betrachtete ihn genau. Sie wusste den Namen, konnte ihn aber nicht aussprechen, denn es war nur ein Gefühl in Form eines Wortes. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie raufte sich die Haare und blickte verzweifelt umher. Da kamen die ersten Tränen.

Sie konnte nicht mehr.

Langsam und zitternd lies sie sich an der Wand zu Boden sinken. Wenn sie doch nur ein Wort zu fassen bekäme. Wenigstens einen Gegenstand benennen könnte.

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Abwesend schaute ich aus dem Küchenfenster zu den Nachbarn, die friedlich auf dem Balkon sassen. Ich würde so gerne die Zeit zurückdrehen. Früher haben uns immer alle bewundert. Wir seien ein Traumpaar. Und das waren wir auch. Optisch, aber auch innerlich, passten wir perfekt zusammen, wie Yin und Yang. Doch jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich einfach nur noch ein fremder Mann für sie. Wie konnte das nur passieren? Mein Blick schweifte zur Wand hinter dem Küchentisch. Es hingen immer noch die Fotos, die sie von uns gemacht hatte. Alle hatte sie liebevoll verziert. Natürlich hingen alle genau im gleichen Abstand zueinander an der weissen Wand. Schon immer war sie eine sehr genau Person. Genau das sind Dinge, mit denen man sich immer aufzieht, doch innerlich liebt man sie.

Scheisse, ich sah, dass sie am Boden hockte und leise weinte. Dieser Anblick brach mir fast das Herz, so sehr schmerzt er. Schnell rannte ich zu ihr und nahm sie in den Arm. ,,Hey Süsse, alles ist gut. Vielleicht sollten wir es einfach lassen und ein anderes Mal weitermachen. Hm? Oder wir lassen es ganz und machen einen Ausflug zusammen und dann kommen dir die Wörter vielleicht ja ganz von selbst in den Sinn. Was meinst du?''

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Er wiegte sie liebevoll in seinen Armen, wie ein kleines Kind. Doch ihr war es unangenehm. Was soll das? Sie mochte diesen Mann nicht besonders. Er umarmte sie dauernd und wenn sie weinte, fing er auch fast an. Warum? Konnte dem doch egal sein.

Den Vorschlag, dass sie es lassen sollte fand sie auch doof. Sie wollte sicher nicht mit irgend einem fremden Typ, den sie nicht kannte, irgendwelche Ausflüge machen. Sie wollte doch einfach nur etwas benennen können. Wenigstens etwas. Vielleicht würde dann die innere Leere mit Freude ersetzt werden. Es war doch nur ein Wunsch. Und noch so ein kleiner. Aber trotzdem ihr allergrösster. Musste sie jetzt ihr ganzes Leben so weiterleben? In eine so grosse Traurigkeit versunken? Oder würde ihr plötzlich alles wieder einfallen?

Sie konnte ihre Gedanken nicht beantworten. Der Doktor auch nicht. Niemand konnte das. Sie musste warten und es selbst herausfinden.

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