Fehler- Kurzgeschichte

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Fehler

Wieder einmal sass Lisa traurig und enttäuscht vor dem Esstisch. Darauf stand ein Marmorkuchen. Es war der Lieblingskuchen ihrer Eltern. Sie hatte ihn extra für sie gebacken. Es war eine Herausforderung für sie, denn Backen war leider keine ihrer Stärken. Eigentlich wollten ihre Eltern heute nach Hause kommen. Doch natürlich kamen sie nicht. Sie hätte es sich denken können. Sie war es sich schliesslich gewöhnt. Trotzdem tat es ihr unglaublich weh, wieder einmal mehr alleine vor dem Kuchen sitzen zu müssen. Sie wollte doch nur mit ihnen am Tisch sitzen und essen. Sie wollte mit ihnen über ihr Tag reden. Sie wollte mit ihnen Zeit verbringen, mit ihnen Zusammensein, lachen. Sie brauchte ihre Eltern doch. Schliesslich waren es ja eben ihre Eltern.

Ihre Mom und ihr Dad waren gemeinsam Inhaber einer der berühmtesten Firmen im Lande. Sie hatten wirklich viel zu tun. Oft mussten sie ins Ausland oder an sonstige wichtige Meetings. Da blieb bedauerlicherweise keine Zeit, nach Hause zu gehen, Lisa zu sehen.

Also sass sie wieder einmal mehr alleine vor dem Marmorkuchen, den sie nebenbei schon x-mal umsonst gebacken hatte, und überlegt sich, warum sie noch lebte. Ihre Eltern liebten sie nicht. Jap, das war die Wahrheit. Wirklich, das waren keine negativen Gedanken, nein das war tatsächlich einfach nur Tatsache. Sie hatten ihr schon oft ins Gesicht gesagt, dass sie ein Fehler war. Ihre Eltern liebten sich zwar, doch ein Kind wollten sie nie. Sie fanden Kinder einfach nur nervig und Teenies erst...!Traurig, nicht wahr? Doch trotz alldem, schaffte Lisa es einfach nicht, ihre Eltern zu hassen. Gerne würde sie es tun, denn sie hassten sie ja auch. Doch sie konnte es nicht. Sie brachte es einfach nicht übers Herz. Schlussendlich waren es ja trotz allem ihre Eltern. Sie war zu gut für diese Familie.

Das einzige, was sie in letzter Zeit noch fühlte, war Traurigkeit und grösste Enttäuschung. Eine Träne kullerte ihr über die Wange und einmal mehr begann sie alleine den Kuchen zu essen. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie noch durchhielt. Sie überlegte sich schon seit einer Weile, einfach aufzugeben. In den Himmel zu gehen.

Vielleicht war heute die perfekte Gelegenheit dazu? Sie hätte den ganzen Abend Zeit. Niemand würde sie finden oder aufhalten. Sie könnte ganz gelassen und in Ruhe gehen. Schnell sprang sie auf und lief in ihr Zimmer. Sie fand ihre Idee ganz gut. Heute wäre wirklich ein guter Zeitpunkt. Doch sie musste noch einiges vorbereiten. Dazu startete sie ihren Laptop auf und begann alte Familienfotos anzuschauen. Wenn es so weit war und sie starb, wollte sie in schönen Erinnerungen schwelgen. Sie wollte in ihren letzten Momenten daran glauben, dass sie von ihren Eltern geliebt wurde. Egal, ob es der Wahrheit entsprach oder nicht.

Nachdem sie die Bilder im Kopf gespeichert hatte, überlegte sie ihren Eltern noch ein Abschiedsbrief zu schreiben. Oder ihren Freunden? Nein, das brauchte sie nicht zu tun. Wenn man jemand nicht liebt, kann man ihn auch nicht vermissen, dachte sie sich. Lisa hatte zwar einen riesigen Freundeskreis, doch niemand davon vertraut sie. Also sind es für sie auch keine richtigen Freunde. Sie hatte zwar Spass mit ihnen, aber wie gesagt, Freunde konnte man es nicht nennen. Trotzdem fand sie es schön, wenn nach der Schule jemand auf sie wartete, um mit ihr zusammen nach Hause zu gehen. Doch wenn sie könnte, würde sie alle ihre "Freunde" eintauschen, wenn sie dafür normal, wie alle anderen, mit ihren Eltern Nachtessen könnte. Wie sehr sie sich das wünschte. Es musste doch unglaublich schön sein, wenn man nach Hause kam und man von seinen Eltern empfangen wurde. Danach ass man zusammen und erzählte einander vom erlebten Tag.

Traurig riss sie sich zurück in die Gegenwart. Ein Messer brauchte sie noch. Sie ging runter in die Küche und nahm eines der Schärfsten hervor. Sie wollte es auf der Couch tun. Da konnte sie liegen und mit schönen Erinnerungen einschlafen. Noch ein letztes Mal ging sie die Pro und Contras durch. Doch, sie würde es jetzt tun. Sie war entschlossen, das Richtige zu tun. Niemand würde sie vermissen, denn niemand brauchte sie, niemand liebte sie.

Sie zückte entschlossen das Messer. Atmete nochmals tief durch, bevor sie die Klinge auf Höhe der Pulsader ansetzte. Nach einem kurzen Blinzeln liess sie das Metall sanft in ihrer Haut verschwinden. Noch während dem schneiden, begann sie zu realisieren, was sie tat. Sie realisierte die Folgen ihres Handelns. "Fuck", schrie sie laut. Ihr Herz legte einen Marathon in ihrem Brustraum zurück, so schnell pochte es. Was hatte sie nur getan? Sie bereute es, zutiefst. Schnell zog sie das Messer aus dem Fleisch und legte es auf den kleinen Tisch nebenan. Den Schmerz spürte sie gar nicht, aber das Blut war erschreckend und überwältigend zugleich. So viel Blut hatte sie noch nie zuvor gesehen. In Strömen floss es aus ihrer Ader.

"Fuck", schrie sie nochmals. Ihre Stimme war laut und voller Entsetzen. Während sie verzweifelt ihren Arm betrachtete, der nur noch rot war, raufte sie sich mit der freien Hand die Haare. Sie war noch nicht bereit zu gehen. Doch leider hatte sie das zu spät realisiert, denn ihr Handeln liess sich nicht mehr ungeschehen machen. Schnell sprang sie auf und rannte in die Küche. Da zog sie ein Küchentuch aus einem der grossen weissen Schränke. Sie drückt das weisse Tuch auf den tiefen Schnitt, doch lange blieb es nicht weiss. Scheisse, Lisa begann zu schreien und zu weinen. Es durfte noch nicht enden. Sie war noch nicht bereit. Sie wollte leben, Dinge entdecken.

Was hatte sie nur getan?

Den Schmerz oberhalb ihres Handgelenkes spürte sie nicht, dafür bereut sie es umso mehr. Es war ein Fehler, das wurde ihr jetzt klar. Sie wollte den Fehler ihrer Eltern ausradieren, verschwinden lassen, doch damit hatte sie nur einen neuen geschaffen. Beide liessen sich nicht korrigieren. Mann konnte sie nicht ausradieren und überschreiben. Es waren beides Fehler, die Fehler blieben egal, was man tat. Man konnte nichts dagegen tun, der Fehler war getan.

Lisa merkte, wie ihr Kreislauf zunehmend schwächer wurde. Sie holte sich eine Handvoll Tücher und rannte weinen zurück zum Sofa. Da setzte sie sich verzweifelt hin und drückte ein neues Tuch auf ihr Arm. Die Tränen strömten ihr nur so übers Gesicht. Jetzt wäre der Moment gekommen, indem sie sich an die schönen Erinnerungen erinnern wollte. Doch sie hatte noch nicht einmal daran gedacht, daran denken zu müssen. Das Einzige, an was sie denken konnte, war ihr Fehler. Sie fragte sich, was sie bloss geritten hatte, ihr die Pulsader aufzuschneiden.

Blasse Sterne machten sich vor ihren Augen sichtbar. Heulend legte sie sich hin, die Beine fest an den Körper gedrückt, genauso wie das Tuch auf ihren Arm. Langsam wurde ihre Sicht schwächer. Doch die Tränen versiegten noch lange nicht. Das Leben verliess langsam ihren Körper. Doch noch immer konnte sie nicht an ihre Eltern und all das Schöne denken. Immer wieder und wieder verfluchte sie sich, für das getane. Sie weinte um ihr Leben. Um ihr Fehler. Ihr Fehler, der für immer ein Fehler blieb. Ein Fehler, bei dem sie nicht mehr die Chance bekam, daraus zu lernen.

Lisa hatte zu spät erkannt, dass sie leben möchte, dass der Tod endgültig ist und man keine weitere Chance bekommt. Sie schnitt sich die Pulsader auf. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen, egal, wie sehr man es sich im Nachhinein wünschte.

So verliess Lisa also diese Welt und fand hoffentlich eine andere, in der sie nicht den gleichen Fehler nochmals begann.

Schade, aus so vielen Fehlern kann man lernen, nur aus diesem nicht:(

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