5.Kapitel

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So langsam kamen wir in ein ruhigeres Viertel Berlins. Ich konnte mich bei der atemberaubenden Sicht kaum auf das beschädigte Dach konzentrieren, auf dem wir (bzw. ich) gerade herumrutschten. Wie kam ich nur dazu auf einem Dach zu klettern?!
Jack lief einige Meter vor mir und schien schon sehr geübt in der Sache zu sein. Plötzlich drehte er sich schwungvoll um und wartete geduldig bis ich bei ihm angekommen war, was etwas länger dauerte, dann zeigte er eine Hauswand herunter.

«Da müssen wir noch runter, dann sind wir schon fast da», sagte er leise und fing an, geschickt an der Fassade herunter zu klettern.

Ich nahm allen Mut zusammen und tat es ihm gleich. Zwar etwas ungeschickter, aber irgendwann berührten meine Fußballen doch festen Boden und ich atmete etwas erleichtert aus. Wir standen in einer verlassenen Gasse und Jack begann einige Schritte weiter zu laufen, bis er vor einer Tür anhielt. Sie war außergewöhnlich modern und neu im Gegensatz zu allem anderen in dieser Gasse und ich fragte mich, wieso sie mir nicht sofort aufgefallen war. "Die Tür wurde neutralisiert. Das heißt, auf den ersten Blick sieht sie aus wie alles andere hier in der Gasse", beantwortete Jack meine Gedanken. Er legte seine Hand auf eine Metallplatte, die aufwendig in die Türe eingraviert war. Ich beobachtete erstaunt, wie sich der Eingang von selbst öffnete und Jack eintrat. "Komm jetzt. Umschauen kannst du dich später", sagte er knapp und zog mich an meinem Arm durch die bestimmt zehn Meter hohe Tür. Im Innern des Gebäudes sah es noch viel überwältigender aus. Der Boden war aus spiegelglattem, dunklem Marmor, vor dem ich Angst hatte, auszurutschen. Links und Rechts waren die Wände gesäumt mit modernen Balkonen in den Farben des Sands. Die Decke war so hoch, dass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste. Weiße Muster und Ornamente durchbrachen die Schwärze der Decke. Es liefen geschätzte vier bis fünf Leute herum, sonst war die riesige Halle ziemlich leer.

"Unsere Eingangshalle", sagte Jack und lief auf die Rolltreppe zu, die sich in der Mitte des Raumes befand.
Mir blieb der Mund offen stehen und ich schaute ihn fassungslos an. Ich trottete ihm ohne Widerstand hinterher. Wenn ich das gerade träumte, dann war ich echt zufrieden mit meiner Fantasie. Die 'Eingangshalle' war etwa 25 Meter breit und etwa 30 Meter hoch, die Länge konnte ich nicht einschätzen. Die Rolltreppe beförderte uns ein Stockwerk tiefer und hier sah die Einrichtung etwas anders aus. Der Boden war aus sehr dunklem Edelholz und die Wände aus beigen Marmor, was den ganzen Raum sehr gemütlich machte. Er war etwa so groß wie die Eingangshalle, nur dass sie Decke um einiges tiefer war. Nicht weit von uns entfernt standen schwarze Ledersofas und Sessel in Gruppen angeordnet. Weiße Felle gaben der Sitzecke ein bequemes Aussehen. Ganz in der Mitte des Saales stand ein langer Tisch, ich schätzte die an ihm versammelten Personen auf etwa dreißig Stück. Es waren sowohl Junge als auch Ältere anwesend. Jack setzte sich wie selbstverständlich neben einen schätzungsweise gleichaltrigen Jungen und winkte mich zu sich. Der ganze Tisch verstummte und starrte mich an. Die, die mit dem Rücken zu mir saßen, drehten sich um. Ich lief langsam und zaghaft näher und setzte mich wie in Zeitlupe, nachdem ich mich überwunden hatte, neben Jack. Mir gegenüber saß ein älterer Mann, ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig.
"Willkommen Liv, wir haben lange auf dich gewartet", sagte er und setzte einen ernsten Blick auf. Ich musste feststellen, dass auch er meinen Namen wusste, obwohl ich ihn noch nicht gesagt hatte.
«D...das...Also... Das tut mir Leid!», stammelte ich verwirrt und ärgerte mich darüber, keinen vollständigen Satz herauszubekommen. Er nickte nur bestätigend.
"Ich bin Gabriel. In den kommenden Tagen wirst du die anderen Roofwalker hoffentlich auch noch kennenlernen", sagte er mit melodischer Stimme. Roofwalker? Konnte denn hier keiner Klartext reden?
"Du bist ein besonderer Roofwalker, weshalb wissen wir alle noch nicht. Mein Vorgänger hatte die Gabe, Visionen zu bekommen. Er hat hervorgesehen, dass die Nummer 4012, also du, eine bestimmte Aufgabe hast." Ich nickte, obwohl ich rein gar nichts von all dem verstand, was er gesagt hatte. 4012? Gab es etwa so viele? Es klang einfach alles verrückt und kompliziert, war anscheinend aber der pure Ernst, es sei denn ich hatte jetzt schon Tagträume. Oder ich träumte wirklich nur.
Plötzlich fiel mir meine Mum ein, die sich sicherlich schon Sorgen um mich machte, weil ich so lange weg war. Hektisch überlegte ich, was ich jetzt sagen sollte.
«Ich verstehe nicht ganz. Was sind diese Roofwalker? Wieso sitze ich hier in einer Versammlung einer Gruppe, die ich noch nie gesehen habe? Was habe ich mit der ganzen Sache zu tun?», sprudelten die Fragen nur so aus mir heraus.
"Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, aber es wird sich alles mit der Zeit klären. Bei uns allen war das genauso", meldete sich jemand zu Wort. Es war eine junge Frau mit hübschen dunklen Haaren und einem bronzenen Teint. "Wer soll sich in den ersten Tagen um sie kümmern?", fragte sie und lächelte mir leicht zu.
"Ich kann das gerne machen. Ich habe sie ja bereits kennengelernt", stellte sich Jack zur Verfügung. Einige nickten zustimmend.

Ich wusste nicht, was ich zu all dem sagen sollte. Etwas nervös spielte ich mit dem Saum meines Tops, da ich wieder ihre Blicke auf mir spürte. Ein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass es langsam brenzlig zu Hause werden konnte. "Musst du heim?", flüsterte Jack neben mir und ich nickte leicht.
"Ich bringe sie dann mal zurück. Sie hat heute nicht viel Zeit", sagte er und stand auf.
"Danke", sagte Gabriel und nickte mir zu.
Auch ich erhob mich und achtete darauf, nicht allzu laut mit dem Stuhl zu scharren. Wieder ruhten alle Blicke auf mir. "Bis morgen", murmelten einige und lächelten aufmunternd.
Ich versuchte ein Lächeln und strich mir verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Meine Wangen glühten.
"Bis morgen", sagte ich zaghaft und Jack machte eine Handbewegung in Richtung Rolltreppe. Ich folgte ihm und atmete tief aus. Mann war das peinlich.
"Alles okey?", fragte Jack etwas besorgt, als er sich zu mir umdrehte. Ich nickte etwas zu heftig.
"Mach dir nichts draus, ich fand das am Anfang auch endlos peinlich", meinte er mit beruhigender Stimme. Ich nickte wieder und ging hinter ihm durch die Tür in die leere Gasse.
"Jetzt ist wieder Klettern angesagt, Anfängerin", sagte er provozierend und zog sich eine Fensterbank hoch. Seine Armmuskeln spannten sich dabei an und wieder musste ich feststellen, wie erstaunlich stark und gut aussehen er wasr. Langsam aber sicher wurde ich wieder mutiger.
"Mal schauen wer als erster oben ist!", rief ich grinsend zurück und sammelte all meine Kraft um zu springen. Es fiel mir sehr viel leichter als zuvor.
"Da sieh mal einer an, die Kleine kann es ja doch!", schmunzelte Jack und versuchte, mir hinterher zu kommen.

«Hey, warum so eilig?», lachte er, als er neben mir auf dem Dachfirst landete.
Ich schaute nur etwas verlegen.
"Ich glaube, ich musste einfach die angesammelte Power wieder rauslassen", schnaufte ich und er lächelte. Das Lächeln hatte etwas sicheres, ich mochte es auf Anhieb und doch sah er etwas verunsichert aus.
"Du bist komisch", stellte ich fest und balancierte den First entlang.
"Na vielen Dank aber auch!", lachte er hinter mir.

RoofwalkerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt