7.Kapitel

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Als ich in meinem leicht schaukelnden Bett lag und mich ausruhte, dachte ich darüber nach, ob ich Linn die Ereignisse der letzten zwei Tage erzählen sollte. Sie würde mich wahrscheinlich für verrückt halten, wenn ich ihr sagte, dass ich einer Gruppe Leute angehörte, die Spaß daran hatten, auf Dächern zu klettern. Andererseits war sie meine beste Freundin und ich hatte keine große Lust, etwas vor ihr zu verheimlichen. Als mein Handy laut vibrierte, wäre ich fast aus dem Bett gesprungen vor Schreck. Ich hechtete zu meinem Schreibtisch, um nachzuschauen, wer mir eine Nachricht gesendet hatte. Chris hatte in die Klassengruppe geschrieben. Ich entsperrte mein iPhone und las neugierig seine Nachricht.

Chris
Hey Leute, hab heute sturmfrei & mache eine spontane Party:) ihr seid alle eingeladen heute Abend 17°°

Gleich darauf schrieb mir Linn und fragte mich, ob ich auf die Party ginge und wir vereinbarten, dass ich zu ihr kam und ihre Mutter uns anschließend dort hinbrachte.

Kurz darauf sprintete ich ins Bad in der selben Etage, stellte mich vor den Spiegel und überlegte, was ich mit meinen Haaren anstellen sollte. Nach langem überlegen und ausprobieren entschied ich mich dafür, sie einfach offen zu lassen und an den Spitzen ein bisschen mit dem Lockenstab zu wellen. Ich schminkte mich dezent, da ich noch nie der große Fan von Make-up war. Ich gab mich mit Mascara, Concealer und Eyeliner zufrieden. Ein Outfit herauszusuchen war nicht schwer, da Sommer war. Ich kombinierte meine dunkelblauen Lieblings-Shorts mit einem weißen Spitzentop. Aus meinem Kleiderschrank holte ich noch meine braunen Sommer-Stiefeletten und ging dann mit Bettelblick in das Schlafzimmer meiner Eltern. Mum war wieder einmal am Lesen und deshalb stellte ich mich so nah vor sie, bis sie mich bemerkte. Fragend schaute sie mich an und ihr Blick glitt über mein Outfit hin zu meiner Frisur. Ich fragte sie in Zeichensprache, ob ich zu der Party durfte. Sie nickte lachend, zum einen, weil sie die beste Mum der Welt war, zum anderen weil mein Hundeblick bei ihr einfach immer wirkte. Ich umarmte sie jubelnd und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, dann machte ich mich auf den weg zu Linn. Nachdem ich die Straßenbahn zu ihrem Stadtviertel genommen hatte lief ich die wenigen Schritte zum Haus ihrer Familie. Der rote Mini stand schon fahrbereit auf dem Gehsteig und Linn wartete an der offenen Hintertür. "Auf geht's", sagte sie lächelnd, als ich bei ihr ankam. Ihre Mum fuhr uns bis vor Chris' Haustür, ließ uns dort aussteigen und winkte uns lächelnd hinterher.

Chris selbst öffnete uns die Tür und mein Herz blieb für ein paar ewige Sekunden stehen. Verlegen stotterte ich eine Begrüßung und Linn kniff mir mahnend in die Seite. Ich zischte leise und sie grinste frech. Chris umarmte uns wie üblich zur Begrüßung und führte uns dann in das mit Jalousien und Vorhängen abgedunkelte Wohnzimmer, in dem sich schon sehr viele andere Gäste aufhielten. Es lief gute Musik und Linn und ich bekamen schnell Lust zu tanzen. Da schon ein paar andere herum hopsten, machten wir es einfach. Ein paar Mädchen waren sogar jetzt schon dicht und Linn schaute mich kopfschüttelnd an.
Als wir gerade an der Theke saßen und eine kühle Limonade tranken, kam Chris auf uns zu. Mein Herz begann wieder zu rasen. Er setzte sich zu uns und fragte: "Gefällt's euch?" Wir nickten beide und ich schrie gegen den Lärm: "War eine gute Idee, eine Party zu schmeißen!"
Chris grinste bestätigend und strich sich durch die Haare. Wie hypnotisiert verfolgten meine Augen seine Bewegungen und Linn musste wieder einmal mahnend in meine Seite pieksen. Ich seufzte kaum hörbar.
"Lust zu tanzen?", fragte Chris auf einmal und ich schnappte nach Luft. Fast schon zu heftig nickend stimmte ich zu. Er zog mich sanft zur Tanzfläche, bestehend aus einem großen weinroten Teppich. Sein Blick verfing sich in meinem und ich sah seine geweiteten Pupillen von der Dunkelheit. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und ich musste es einfach erwiedern. Für einen kurzen Moment bildete ich mir ein, seinen Blick auf meinen Lippen ruhen zu sehen. Arm in Arm wippten wir im Takt des Liedes. Es war zwar langsam und langweilig, doch ich genoss seine Nähe und sog seinen vertrauten Duft ein, roch sein Kaugummi. Ich wollte, dass die Zeit stehen blieb. Dieser Moment nie vorüber ging. Doch nach einiger Zeit räusperte Chris sich. "Ich muss mal wieder Limo holen, die anderen beschwehren sich schon", sagte er ein wenig bedauernd und ließ mich los. Ich nickte nur.
Danach tanzte er den ganzen Abend nicht mehr mit mir. Ich und Linn lungerten ständig an der selbst aufgebauten Theke herum. Ab und zu gesellten sich andere Gäste zu uns und unterhielten sich oberflächlich mit uns. Als sich eine ziemlich aufgebrezelte Blondine vor mich setzte, ahnte ich schon nichts gutes. "Hallo Liv", spuckte sie mir förmlich ins Gesicht. "Ich habe gehört du stehst auf Chris?" Sie beugte sich vor, wobei mir nicht entging, wie gewagt ihr knappes Top ausgeschnitten war. Ich wechselte einen Blick mit Linn, die das Blondchen mit hochgezogenen Brauen musterte. "Was willst du?", zischte ich und ihre mit Kajal schwarz umrandeten, glasigen Augen verengten sich. "Das du dich von ihm fernhälst, du kleine Schlampe!", gaffte sie mit nun lauterer Stimme. Ich hörte mich selber empört nach Luft schnappen. Mir fehlten die Worte und mein Inneres brodelte vor Wut.
Linn erlöste mich, indem sie das Wort ergriff.
"Also hör mal! Es war schließlich Chris, der sie zum Tanz aufgefordert hat. Was auch immer du gesehen haben willst, sie haben nur getanzt."
"Halt du dich da raus, Lesbe!", schrie Blondie. "Was fällt dir ein?", rief ich zurück. "Vieles, wenn ich daran denke, was ich dir und deiner dämlichen Freundin alles antun werde, wenn du Chris weiter anbaggerst!", schrie sie nun so laut, dass sie die Musik übertönte und sich einige Gäste neugierig zu uns umdrehten. Die kalte Wut stieg in mir auf und ich merkte gar nicht, wie ich meine Hand immer fester um die Limoflasche schloss.

Auf einmal klirrte etwas. Ein stechender Schmerz zuckte durch meine Hand und ich spürte, wie warmes Blut auf den dunklen Holzboden tropfte.
Linn schrie neben mir auf. Auch das Mädchen mir gegenüber starrte erschrocken auf meine blutende Hand. Die Überreste meiner Flasche hatten sie übel angerichtet. Wimmernd ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken und ich versuchte, mit den Schmerzen klar zu kommen. Im Hintergrund hörte ich, wie abrupt die Musik abgestellt wurde. Plötzlich war es totenstill im Haus. Dann hörte ich, wie sich Schritte in unsere Richtung näherten. "Ich bringe dich ins Krankenhaus", sagt eine ruhige Stimme nahe meinem Ohr und ich erkannte Chris. Ich schaute auf und sah in seine vor Sorge geweiteten Augen. Er drückte mir sein T-shirt auf die Hand um die Blutung zu stillen und ich zischte laut auf. Es brannte höllisch. Alle starrten mich erschrocken an - und seinen freien Oberkörper.
"...wie konnte das passieren?..." "...die Flasche mit der Hand?!...", hörte ich es nun von allen Seiten.
"Kannst du aufstehen?", fragte Chris sanft und legte mir eine Hand auf den Rücken. Dort, wo er mich berührte, brannte meine Haut wie Feuer. Der Raum schien vor meinen Augen zu schwanken und ich ließ mir von Chris helfen, auf die Beine zu kommen. Er und Linn führten mich langsam zu Haustüre und jemand anderes, den ich nicht kannte, legte mir eine Jacke um die Schultern. Auch Chris schnappte sich eine Jacke von der Garderobe und öffnete die Tür, sodass Linn mich herausführen konnte. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen und ich lehnte mich stärker an meine Freundin. "Lass mich nochmal kurz deine Hand sehen", bat Chris leise und ich hielt sie ihm entgegen. Wieder durchzuckte mich der stechende Schmerz. Behutsam fuhr Chris einmal über die freigelegte Innenfläche der Hand und die Schmerzen verschwanden urplötzlich. Verwundert schaute ich auf. "Wie...?", begann ich, doch Chris legte mir lächelnd einen Finger auf die Lippen und schob mich dann sachte zur Garage, dessen Tor sich gerade öffnete. Linn drückte mich sanft in einen Hintersitz und setzte sich neben mich, während ich mich immer noch über die plötzlich verschwundenen Schmerzen wunderte. Nachdenklich betrachtete ich meine Hand, die noch genauso aussah, wie davor. Auch die Blutung war noch nicht gestillt. Dennoch verspürte ich keinen Schmerz mehr. Linn streichelte mir tröstend über den Arm und lächelte aufmunternd. Ich lächelte kläglich zurück und beobachtete den Verkehr außerhalb des Autos, während ich das T-shirt wieder auf die Wunden drückte. Chris vor uns schaute die ganze Zeit konzentriert auf die Fahrbahn. Seine Hände klammerten sich fest um das Lenkrad und die Knöchel traten weiß hervor. "Tut mir leid, dass ich dir die Party vermasselt habe..." , sagte ich kleinlaut nach vorne. Er antwortete zunächst nicht, doch als wir an einer roten Ampel standen, drehte er sich nach hinten um. "Ach was, mach dir keine Vorwürfe. Die Hälfte der Gäste habe ich sowieso nicht eingeladen und ging mir auf den Geist", versuchte er mich zu beruhigen. Ich schnaufte laut. Die Ampel sprang wieder auf grün. "Wir reden später noch einmal, okey?", fragte er, bevor er sich wieder dem Steuer zuwendete. "Okey", stimmte ich leise zu und Linny drückte meine Hand.

Im Krankenhaus kam ich in die Notaufnahme, kurz darauf traf Linn's Mutter mit meiner zusammen ein. Das letzte woran ich mich noch erinnern konnte, waren besorgte Gesichter und weiße Kittel, bevor mir ganz schwarz vor Augen wurde und ich nicht einmal mehr das grelle Licht wahrnahm. Ich spürte nur noch, wie ich sanft auf eine Liege gelegt wurde und hörte, wie jemand etwas von "...zu viel Blut verloren..." sagte.

RoofwalkerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt