3.Kapitel

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Diesen Morgen war ich relativ früh wach und zog erst einmal meine verschwitzten Kleider vom gestrigen Tag aus. So halb angezogen tapste ich dann in das Badezimmer und erfrischte erst einmal meinen gesamten Körper mit kühlem Wasser. In Jogginghose und Top stand ich einige Minuten später in der Küche und bereitete einen Teller mit verschiedenen Früchten für das Frühstück vor. Als ich gerade dabei war, die Cornflakes auf den Tisch zu stellen, kam meine Mutter die Treppe herunter geschlürft und ich lächelte sie an. Nach einem Eilfrühstück richteten wir uns für den Arzttermin und saßen eine gute halbe Stunde später im Auto.

Nachdem wir vom Arztbesuch zurück kamen (er meinte doch wirklich, ich sei kerngesund, haha), hatte ich mich erneut übergeben. So viel zu: ich bin kerngesund. (Gibt es da noch eine Steigerung? Ich wüsste nämlich nicht, wie ich mich dann nennen sollte, wenn es mir gut geht...)

Mir war wirklich immer noch sehr unwohl und nachdem ich unter der heißen Dusche gestanden war, drückte es leider schon wieder in der Magengegend. Obwohl ich wusste, dass alles noch schlimmer werden konnte, gab ich meiner Mutter ein Zeichen, dass ich an die frische Luft nach draußen ging, um Sauerstoff tanken. Vielleicht half das ja etwas. Sie nickte kurz und schmiss mir meinen dünnen Lieblingscardigan in Grau von der Garderobe zu. Ich schlüpfte in ihn, zog meine ausgelatschten Vans an und schloss leise die Haustüre hinter mir. Durch unser großes Küchenfenster winkte ich meiner Mutter zu, die mir etwas verloren nachstarrte.

Ich wusste, dass sie sich Vorwürfe machte, sie sei eine schlechte Mutter, weil sie nicht einmal richtig mit ihrer Tochter kommunizieren konnte. Doch das stimmte nicht, ich verstand mich blendend mit ihr und liebte sie so, wie sie war.
Vor mir sah ich unseren gepflegten, grünen Vorgarten und - Berlin, meine Heimatstadt seid über fünfzehn Jahren. Nachdem ich den Garten verlassen hatte, bummelte ich langsam unsere ruhige Straße entlang zur nahegelegenen U-Bahnstation, stieg mit weiteren wenigen Passanten ein und fuhr einige Stationen in Richtung Innenstadt. Zum Glück war an diesem lauen Ferientag nicht sonderlich viel los, sonst wäre ich in der Bahn noch umgekommen vor Hitze, Schweißgeruch oder Übelkeit.
Gegenüber von mir saß ein alter Mann auf einem der abgenutzten Sitze und ich lächelte ihm freundlich zu, da ich so erzogen wurde. Er lachte zahnlos zurück. Etwas gruselig aber... nett. Den Rest der kurzen Fahrt verbrachte ich damit, meine neuesten Whatsapp- und Facebook-Benachrichtigungen zu checken.

Nachricht von: Linny
Hey süße, gute Besserung!:*

Sonst ein paar Nachrichten von nervigen Spamern in der Klassengruppe und auf Facebook hatte irgendeine Tussi meiner Schule heute Geburtstag.
Das war's.

Während ich, eine Nachricht an Linn tippend, die Station verließ, betrachtete ich einige Schaufensterpuppen und schlenderte weiter durch die relativ belebten Straßen. Es wurde höchste Zeit, dass meine beste Freundin und ich mal wieder shoppen gingen. Nach wenigen Minuten betrat ich zufrieden mein Lieblings-Einkaufscenter im Zentrum der Stadt. Ich ließ mich von der Rolltreppe hinauf in das erste Obergeschoss befördern und lief freudig in mein kleines Lieblings-Café. Dort bestellte ich mir eine heiße Schokolade, um meinem Bauch etwas gutes zu tun, bei einem Kellner den ich schon lange kannte, weil ich dieses Café so oft besuchte. Lächelnd nahm er die Bestellung entgegen und zwinkerte mir zu, ich zwinkerte zurück und musste grinsen. Plötzlich vernahm ich die blonden Haare meiner Freundin im Augenwinkel. Sie saß mit Sam an einem Zweiertisch und sie hielten ihre Hände. Ich beschloss, sie einfach in Ruhe zu lassen. Draußen auf der Terrasse war es - Gott sei Dank - angenehm kühl und viele verzogen sich in den Schatten. Ich stellte mich an das erhitzte Geländer und wartete auf meine Bestellung. Vor mir ging es tief herunter und unten konnte ich die Autobahn und die Fahrzeuge sehen, die sich wie Spielzeuge auf Miniatur- Straßen fortbewegten. In etwa fünf Metern Abstand befand sich eine Leiter an der bröckeligen Fassade des gegenüberliegendem Gebäudes und ich fragte mich, wozu diese wohl dienen sollte.

Ich hielt kurz inne. Leiter? Plötzlich überkam mich eine riesige Lust zu klettern. Genau an dieser Leiter. Dieses Gefühl war unbekannt und mir völlig fremd. Was war bloß in mich gefahren? Wollte ich Selbstmord begehen?

Und plötzlich sprang ich gegen meinen Willen und doch mit meinem Willen. Für eine kurze Zeit schien die Zeit still zu stehen, während ich in der Luft zwischen zwei Hauswänden hing. Schwindel erregende Höhe, doch statt Höhenangst spürte ich eher eine merkwürdige Gleichgültigkeit, die mir doch den Atem raubte. Mit einem erstaunlich leisen Ruck kam ich an der Leiter an und meine Hände klammerten sich um eine Sprosse. Ich schaute mich prüfend um. Keiner schien meinen Sprung bemerkt zu haben, was schon fast an ein Wunder grenzte, da die Terrasse voll mit Menschen war. Jedoch schien jeder mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt.
Über die Leiter gelangte ich wie in Trance auf das Flachdach einer kleinen Bäckerei. 'Klein' war gut. Nach Atem ringend stand ich dort und ließ mein Blick über all die Dächer der Stadt schweifen, die jetzt auf der selben Ebene wie ich waren.

Ich konnte nicht fassen, was ich da gerade getan hatte. Ich hatte einen fünf Meter breiten Spalt überwunden und mich dann an einer wackeligen Leiter auf ein Dach gehangelt! Seit wann war ich bloß so waghalsig? Und ist das eigentlich nicht unmöglich?! Schlagartig verschwand die Gleichgültigkeit, die mich zuvor so lässig handeln ließ. Mir wurde enorm schwindelig und ich schwankte unruhig auf einer Stelle, dann fiel ich.

Halt, nein, ich fiel fast. Auf einmal packte mich eine kräftige Hand nicht wenig schmerzvoll am Arm und bewahrte mich somit vor dem Absturz, der meinen sicheren Tod bedeutet hätte. Das hätte ich meinen Eltern nun wirklich nicht gewünscht...
Bevor meine Augenlider zu schwer wurden, erhaschte ich einen kurzen Blick auf nachtschwarze Haare und einen muskulösen, großen Körper - dann wurde alles schwarz und ich sackte in mich zusammen, spürte jedoch starke Hände an meiner Hüfte, die mich stützten.

RoofwalkerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt