Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]

II - Von Sprache

Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Sommer

Nahe Ardport, Grenzgebiet des Kaiserreiches

"Ihre Sprache - die erste, ursprüngliche Sprache - gesprochen, als der Fluss der Zeit noch ein Rinnsal war; gesprochener Widerstand gegen ihre Schöpfer; ein Echo in ihrem Grab; ein Donnergrollen, als das letzte Wort der Titanen, verschluckt im Stein, ein Flüstern. Eine jede Silbe voll Bedeutung, ein Königreich in einem Wort, eine Welt in einem Satz. Wenn wir hoffen wollen, sie zu verstehen, müssen wir ihre Sprache verstehen. Wir können nicht verstehen, wozu wir nicht die Worte haben, es zu beschreiben. Doch wenn wir die Worte dafür besitzen, erlaubt es uns neue Möglichkeiten, neue Wege des Denkens. Die Sprache ist ein Schlüssel zu neuen Ideen. Zu Welten, die wir uns jetzt nicht vorstellen können. Mit den richtigen Worten bauen wir Türme aus Glas, gießen flüssigen Stein und bauen daraus Städte, sehen hinauf zu den Sternen und greifen nach ihnen, sehen hinab in uns selbst und verstehen. Erhalten Macht über den kleinsten Teil der Welt und beugen sie unserem Willen. In ihrer Sprache finden wir ihre Macht. Und in ihrer Macht finden wir das Vergessene wieder."

Er schritt vor dem Tisch auf und ab. Er hatte ihr diesen Vortrag schon oft genug gehalten, doch es war ihm wichtig, dass sie auch wirklich verstand, was er ihr sagte - was er ihr beibringen wollte und musste. Und wenn es bedeuten würde, dass sie jedes Wort auswendig lernen würde.

"Und wenn wir ihre Sprache begreifen und vermögen, zu verstehen, dann können wir ihnen gegenübertreten. Können wir in Wunder und Schrecken den Blick von ihnen abwenden. Denn selbst, was wir begreifen, kann unsägliche Macht über uns ausüben. Kann locken, kann treiben, kann betteln. In ihrer Form liegt das Versprechen auf Macht."

Würde er ihr heute endlich das Tor öffnen und den Weg zu dieser Welt zeigen? Seine Schülerin schlug die nächste Seite in dem Buch vor ihr auf. Wenn sie ihm zuhörte, dann nur mit einem Ohr. Eine gewaltige Karte erstreckte sich über beide Seiten. Das nördliche Titanengrab. Die Provinzen Tamset und Sahadye. Die neue Hauptstadt Qarahad an ihrer Grenze. Arigarðr, Avnborg und Al-Mahr im Norden. Die Feste Daraj im Süden. Viele Posten, die nur noch Ruinen waren. Grenzen, die in den letzten dreihundert Jahren wieder und wieder neu gezeichnet wurden. Und allumfassend die vernarbte Landschaft; allzerfurchende Täler, Steinkämme, Schluchten, Plateaus; Zeuge eines Konfliktes, wie ihn die Welt nie wieder erleben sollte. Allverachtend, allverzehrend.

Der Wiederaufbau von Sunna Manaheres beschrieb die ersten hundert Jahre nach dem Götterkrieg als eine goldene Zeit, die die Wunden, die lange Jahre der Feindschaft gerissen hatten, heilte. In den zweihundert Jahren, die seitdem vergangen waren... Nun, der Magier war sich nicht sicher.

Die Augen der Schülerin wanderten über die Seiten; von Stadt zu Stadt, von Fluss zu Fluss, von Feste zu Feste. Sie war intelligent, sie war wissbegierig, war neugierig. Aus diesen Gründen hatte er sich damals entschieden, sie aufzunehmen; hatte sie von den Straßen von Ardport geholt. Er brauchte eine Nachfolgerin. Doch sie hörte ihm nicht zu, lebte in ihrer eigenen Welt, sprang chaotisch von Thema zu Thema, Fachgebiet zu Fachgebiet. Geschichte zu Geographie zu Mathematik zu Astronomie zu Medizin. Sie hatte keine Geduld. Es war schwer, ihr etwas beizubringen.

"Das Titanengrab ist ein wunderbares Beispiel", versuchte er es. Sie sah zu ihm auf, als wäre es der erste Satz, der zu ihr durchgedrungen war. "Hörst du mir zu oder mache ich das alles für mich selbst?"

Er sah es daran, wie ihre Lider zuckten: Sie verkniff es sich, mit den Augen zu rollen. "Bitte, Meister, das ist der gleiche Vortrag, den Ihr mir schon mindestens einhundert Mal gehalten habt."

"Und warum habe ich dann trotzdem das Gefühl, dass ich damit nicht zu dir durchdringe?"

"Also, bitte? Wofür ist das Titanengrab ein wunderbares Beispiel? Eine Macht, die es vermag, ganze Landstriche neu zu formen", sie imitierte seine Stimme. "Die das Unmögliche möglich macht."