Jahr 350 nach dem Götterkrieg, Spätherbst
Irgendwo zwischen Andras und Merun
Sie waren die ganze Nacht hindurch geritten; die Hunde des Kaiserreiches in ihrem Nacken und wenn sie nur für eine Sekunde nachgaben, würde ihr Blut bald die Erde in Merun tränken. Sie waren weit fort geritten von der alten Wegstation, erst entlang der Straße, dann ab auf einen schmalen Weg zwischen Wiesen und kahlen Feldern, auf denen die letzten vergessenen Halme einsame Wacht hielten. Dann in den Wald, dessen Name Áed nicht kannte. Und als sie weiter und weiter hindurch ritten, kamen die Bäume näher und näher und begannen schließlich, nach ihnen zu greifen, schienen sie für ihre Verfolger festhalten zu wollen. Knorrige Äste schlugen um sich, Hände aus trockenen, kantigen Blättern und Zeigen gruben sich in Kleidung und Haar und eine Dunkelheit schrie mit einer Stimme aus Laub und Hufschlag ihren Namen in die Nacht. Und als sie die Dissonanz aus Rinde und Ranken, Nessel und Nadel, Disteln und Dornen endlich hinter sich gelassen hatten, war da kein Weg mehr, nur noch offenes Feld und die Monde über ihnen.
Sie ließen den Wald hinter sich, folgten einer geraden Linie ins Ungewisse. Ritten mit dem kalten Wind, mit schlagendem Herzen. Sie ritten über Stunden, ließen das Grünland hinter sich, folgten Feldrainen entlang Äckern, Waldrändern, fanden einen schmalen Pfad und verließen ihn dann wieder. Und schließlich erreichten sie einen schmalen Fluss und folgten ihm stromaufwärts.
Die ganze Zeit über sprach keiner von ihnen. Was gab es zu besprechen? Ihre Situation war schlecht. Zum Tode verurteilt und auf der Flucht. Áed kannte diese Gegend nicht und vertraute darauf, dass Sara es tat und er folgte ihr. Sie war verwundet und er wusste nicht, wie lange sie noch ohne einen Medicus überleben würde. Er richtete ein stummes Gebet an den Nachthimmel über ihnen, dass Naomh Cairistiòna sie noch nicht zu sich holen möge.
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Eine erste dünne, rote Linie begann am Horizont zu schimmern, als der Fluss sie in den frühen Stunden eines neuen Morgens zu einem alten Mühlhaus führte. Sein Rad drehte sich nicht mehr und das kalte Wasser floss nur gleichgültig über die hölzernen Blätter. Gleich hinter dem Haus begann ein Wald, der sich noch mit letzter Kraft an sein Leben zu klammern schien, bevor ihm der Winter endlich ein Ende setzte. Die Welt hier war still, ohne den Wind und den Lärm von Hufen; alles schlief und auch Áed war mit seinen Kräften am Ende.
"Sollen wir hier rasten?", fragte Áed als sie gemächlich auf die Brücke zu ritten, die sie über den Fluss bringen würden. "Wir können so nicht weitermachen. Die Pferde brauchen eine Pause. Und du auch." Und bei den Heiligen, er auch. Sara schnaubte nur verächtlich, doch er sah es an der Art, wie sie saß: Auch sie war am Ende ihrer Kräfte. Hier konnten sie rasten, es war abgeschieden, man würde sie nicht finden und wenn sie wieder bei Kräften waren, konnten sie der Straße folgen. Es musste in der Nähe eine Stadt geben oder zumindest ein Dorf.
"Ich brauche keine Pause", erwiderte sie schroff, fügte dann aber sanfter hinzu: "Aber die Pferde."
Áed hätte fast mit den Augen gerollt. "Gut, dann halt die Pferde und ich, aber wir rasten hier. Ich bin am Ende."
Sie überquerten die Brücke aus massiven, alten und verwitterten Balken; der Fluss darunter murmelte sein beständiges Gebet an Götter, die in diesen Gegenden niemand mehr verehrte. Der Hof auf der anderen Seite bestand aus drei Häusern, der Mühle selbst, einem Stall und einem kleinen Wohnhaus für den Müller. Fachwerk aus dunklen Balken, weißer Putz, rote Dachziegel und grüne Fensterläden.
Die Pferde brachten sie in den Stall und versorgten sie. Es gab noch Heu und Áed holte Wasser vom Fluss. Danach gingen sie selbst zum Wohnhaus. Sara hatte Áeds Hilfe abgelehnt, als sie von ihrem Pferd gestiegen war. Sie war mehr gestürzt als abgestiegen. Ihr Verband war dunkel-rot-nass, ihr Gesicht blass und trotz der Kälte stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Sie humpelte und bei jedem Schritt drohte ihr Bein nachzugeben, doch sie gab keinen Laut von sich.

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Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]
FantasíaDie Welt liegt im Sterben. Die Bäume verdorren, der Boden wird unfruchtbar und die Toten weigern sich, tot zu bleiben. Wie eine Krankheit breitet es sich vom Westen her aus. Aus dem Eisenwald heraus und über die zentralen Ebenen und die Flusslande. ...