IX - Giræsea

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Jahr 351 nach dem Götterkrieg, Sommer

Merun, Hauptstadt des Kaiserreichs


Giræsea erwachte in eine Welt, die grausamen Spaß daran fand, sich vor ihren Augen zu drehen und wenn sie diese zu lange offen hielt - bei dem vergeblichen Versuch, klar zu sehen - wurde ihr dabei übel. Also ergab sie sich und ließ sich zurück auf ihr Kissen fallen. "Verflucht..." Sie schloss die Augen wieder und lag still da. Sollte der Tag noch etwas auf sie warten. Sie lauschte. Und hörte nur ihren eigenen Atem. Älyan war fort. Giræsea rollte sich auf die Seite und sah auf das leere Kissen. Wo sie wohl gerade war? Sie strich mit ihren Fingern über den rauen Stoff. Hoffentlich ließ sie sich nicht dabei erwischen, wenn sie etwas dummes tat. Bei dem Gedanken wurde ihr warm ums Herz und sie musste lächeln. Natürlich würde sie etwas dummes tun und Giræsea freute sich schon auf die Geschichte. Erzähl mir nachher davon, dachte sie.

Die Welt tanzte noch immer um sich selbst, ihr Kleid Schatten und Licht und Holz und Stein und das Laken neben ihr und das Wachs der Kerze. Giræsea schloss ihre Augen wieder und versank in der wohligen Wärme des unbequemen Bettes. Trotz allem glücklich. Und trotz allem war sie zufrieden, wie der gestrige Tag verlaufen war. Sicher war es knapp gewesen, doch das war ein Söldner der Kurr weniger. Und wenn sie auch nur ein winziges bisschen Glück hatten, waren sie in weniger als einem Fünftag fort von hier und wieder schwieriger zu finden. Götter, sie würde diese Stadt nicht vermissen. Sie verstand nicht, wieso es so viele Seelen nach Merun zog. Es war die größte Stadt des Kontinents und sie konnte nichts Gutes daran finden. Dicht gedrängte Häuser überall, gebaut nach oben und nach unten und in die Breite, so weit es die Mauerringe zuließen, bevor sie anfingen miteinander zu verwuchern. Tausende von tausenden von Menschen und Zwergen und Felin und alle rannten im endlosen Strom ihrem Leben hinterher. Endloser Tag– die Nacht verbannt durch immer-brennende Laternen und Fackeln, und doch gab es ganze Teile der Stadt, deren Bewohner nie das Tageslicht sahen. Dort landeten all jene, denen in Merun die Sonne nicht vergönnt war oder jene, die suchten, sich im Schatten zu verstecken. Sie gehörte zu letzteren. Und dennoch war sie entdeckt worden. Naja, es war nicht mehr wichtig. Bald würden sie fort sein.

Mühsam setzte sie sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie wusste nicht, wie Älyan es geschafft hatte, schon so früh schon munter genug zu sein, ohne eine Spur zu verschwinden. Sie hatte doch die Nacht zuvor ebenso mit ihr gefeiert. Sie wussten endlich, was ihr nächstes Ziel war; sie hatten Grund genug dazu gehabt. Und Gelegenheit. Eine Flasche mit mysteriösem Inhalt und ein unbequemes Bett, es hatte ihnen gereicht. Es war mehr, als ihnen die Straße geboten hatte. Sie kostete ihre Lippen auf einen verbleibenden Geschmack der vergangenen Nacht und wurde enttäuscht.

Sie strich erneut eine Strähne aus ihrem Gesicht, die nicht an ihrem Platz bleiben wollte. Dann seufzte sie und suchte nach dem Ende ihres Zopfes. Sie fand das Lederband und löste den Knoten. Thorgest hatte sich solche Mühe gegeben, doch jetzt begann sich der Zopf aufzulösen. Und in der Stille und dem Frieden ihres Zimmers half sie ihm auf seinem Weg. Perlen aus Metall und Holz glitten durch ihre Finger und sie legte sie auf das Bett. Dann folgte das gelbe Band, das zwischen ihre Haare geflochten war. Mit noch trägen Fingern löste sie den Zopf, Strang um Strang, Windung um Windung. Hinauf zu ihrem Kopf, dann entlang ihrer Schläfen. Es war ein einfacher Moment der Stille und des Friedens, ein Moment, der nichts mit ihrer Suche zu tun hatte, nichts mit ihrer Flucht. Ein Augenblick nur ohne das Gedränge auf den Straßen oder Märkten, ohne den Lärm und - redete sie sich ein - ohne fürchten zu müssen, dass ihr jemand ein Messer zwischen die Rippen treiben wollte.

Sie strich sich die Haare auf die linke Seite, stand auf und trat an die Waschschüssel heran. Sie war froh, dass sie sich zumindest ein paar Annehmlichkeiten leisten konnte, auch wenn nach Monaten auf der Straße ihre Mittel allmählich erschöpft waren. Sie dachte an die Heimat, die sie wahrscheinlich nie wieder sehen würde, als sie sich das Gesicht wusch. Vermisste sie das Sandmeer? Wie der Sand in der untergehenden Sonne glitzerte, wenn ein Windhauch ihn davon trug? Gemeinsam um ein Feuer zu sitzen und Geschichten zu hören und zu erzählen? Ihre Familie? Bereute sie, gegangen zu sein? Sie im Dunkeln gelassen zu haben? Vielleicht – Es war schwer, sich dieser Frage zu stellen. Aber es war besser so; Thorgest hatte recht: "Was hättest du ihnen gesagt? Du hast getan, was du für das Richtige hältst und so wirst du ihnen helfen." Oh, wie sie hoffte, dass er recht hatte. Fünf Winter war es jetzt her, dass sie ein letztes Mal zu den Sætteni zurückgekehrt war und sie dann für immer verlassen hatte. Ihre Träume hatten ihr den Weg gewiesen. Fort von der Heimat in die Fremde. Kein Ziel; kaum mehr als eine Richtung. Und sie hatten ihr eine schreckliche Vorahnung geschenkt. Und jetzt waren die Eisenwälder überrannt, niemand wusste, wie es um die Steppe stand und es gab erste Sichtungen im Sandmeer. Sie wusste nicht, was ihre Rolle in diesem Stück sein sollte.

Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt