Brasilien 7

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Nachdem sich Anna von gestern erholt hat, konnte ich sie dazu überreden, mit Luc und mir das Qualifying anzusehen. Zwar war es ein Kampf sie davon zu überzeugen, dass wir nicht mehr sauer sind, jedoch habe ich es doch geschafft, dass die Blonde nun mit uns in der Cafeteria der Ferrari-Motorhomes sitzt. Sichtlich zerknirscht sitzt sie dort, trinkt ihre Sprite und hat bisher kaum ein Wort verloren. Mein Puls steigt bei dieser Erkenntnis von 77 auf 78 und das nur, weil mein Kaffee sich dem bitteren Ende neigt.

Gesprächsbedarf besteht nicht mehr, nachdem wir uns dazu entschieden haben, unser Projekt frühestens in der Winterpause fortzusetzen. Von meiner Seite gab es für diesen Vorschlag keine Kritik, denn mein Kopf ist derzeit überall nur nicht bei der Arbeit, die ich verrichten sollte. Selbst jetzt, während der Vorbereitungen für das Qualifying hänge ich wie so oft bei George. "Ob Toto schon mit ihm geredet hat?", schießt es mir durch den Kopf, während ich diesen zeitgleich in den Nacken lege, um die letzten Reste des Kaffees aus der Tasse zu bekommen, erfolgreich.

"Was glaubt ihr wie das Qualifying ausgehen wir?", fragt Luc in die Runde, vermutlich will sie für Stimmung sorgen. Gerade ist Anna daran ihren Mund zu öffnen, schließt diesen sogleich wieder. "Vielleicht mal wieder einem guten Startplatz für George? Wäre schon was", antworte ich ihr versucht gefreut, obwohl ich innerlich weiß, dass es damit nichts wird. "Wäre schon was. Ich hoffe einfach, dass keine Unfälle passieren", murmelt die Französin, die sich sogleich die Hände an der Hose abwischt. "Keine Sorge, die Jungs machen das schon" rede ich ihr gut zu, doch die Panik in ihren Augen zeigt mir, dass sie damit zu kämpfen hat, mir das zu glauben.

"Ich kann das nicht", plötzlich steht die Französin auf, mitten im Q1, was mich aber auch Anna verwirrt zu ihr blicken lässt. "Soll ich?", frage ich an die Blonde gerichtet, die vermutlich gerade nicht einmal versteht, worum es geht. "Ja, ich stehe auf der Leitung", meint diese und das ist mein Startschuss zum Aufstehen. Mit eiligen Schritten verlasse ich wie sie vor wenigen Sekunden den Raum, schließe die Türe geräuschlos hinter mir. Zuerst blicke ich links, nichts zu sehen, dann rechts, wieder nichts. Panik macht sich in mir bereit, wohin kann sie schon verschwunden sein? Mein Unterleib zieht sich seltsam zusammen und kurzerhand fische ich mein Handy aus der hinteren Hosentasche.

Eine Nachricht von ihr leuchtet mir entgegen "Bin auf der Toilette", hat sie getippt, erleichtert lasse ich meine Hand sinken. "Zumindest eine die verrät, wohin sie geht, wenn sie verschwindet", denke ich mir. Sobald ich mein Smartphone gesperrt wieder in die Hosentasche gleiten lasse, mache ich mich auf den Weg zu den Toiletten. Zumindest kenne ich mich hier aus, anders als im RedBull Motorhome, wo ich mich bereits einige Male verlaufen habe. Bei dem Gedanken daran muss ich leicht schmunzeln, beeile mich jedoch sogleich wieder, um Luc Beistand leisten zu können.

Bei den Damentoiletten angekommen, sehe ich sie schon an der Wand lehnen, bevor ich die Türe überhaupt ganz geöffnet habe. "Es geht einfach nicht", flüstert sie, gestresst fährt sie sich mit beiden Händen über ihr rotes Gesicht. "Das ist vollkommen in Ordnung", ich gehe auf sie zu und je näher ich komme, umso sichtbarer wird die Angst, die sie gerade durchmacht. "Es löst so einen Stress aus, in jeder Kurve könnte etwas passieren", beim Aussprechen dieser Worte spannt sich ihr Oberkörper sichtlich an. "Das verstehe ich, es ist auch völlig in Ordnung. Das mit Pierre ging an niemanden spurlos vorbei", rede ich sanft auf sie ein.

Mit der Linken streiche ich ihr beruhigend über die Schulter, was sie tatsächlich ruhiger werden lässt. Ihr Atem wird wieder regelmäßiger, auch ihr Gesichtsausdruck entspannt sich kaum merklich. "Schon, aber was ist, wenn es Arthur, Charles oder sonst wen erwischt? Wir haben ja gesehen, was passieren kann", schluchzt sie, verkrampft hält sie beide Hände vor das Gesicht. Wieder stehen wir dort, wo wir bereits waren und es löst einen Schmerz in meiner Brust aus. "Wie oft passiert so etwas? Spa ist mitunter die gefährlichste Strecke, wenn du mich fragst", versuche ich sie zu beruhigen. "Aber es kann immer etwas passieren", ihr glasigen, roten Augen sehen mich eindringlich an.

"Das mag sein, aber wie oft ist schon etwas Schreckliches passiert? Natürlich, Pierre liegt im Koma, aber er hat überlebt und er wird durchkommen. In der Formel 1 ist schon seit so vielen Jahren nichts mehr passiert und das war Unglück, dass es genau ihn getroffen hat. Aber es ist nicht vorbei und er kämpft noch immer einen Kampf, den er gewinnen wird", beim Sprechen lege ich beide Hände an ihre Schulter, sehe ihr tief in die Augen. "Stimmt schon", murmelt die Französin mit gesenktem Blick ins Leere.

"Ich will dich nicht überreden das Qualifying fertig anzusehen, aber schau dir Charles und Arthur an, die beiden steigen immer noch in den Wagen", ich versuche ihr eine andere Seite zu zeigen, nachdenklich legt sie ihren Kopf schief. "Du hast Recht, aber heute geht es einfach nicht, irgendetwas in mir weht sich, ich kann es nicht beschreiben", hörbar atmet sie auf und hebt ihren Blick wieder ein wenig. "Daran ist nichts verkehrt", ermutige ich sie, schenke ihr ein Lächeln, welches sie kaum sichtbar erwidert. "Willst du noch hierbleiben?", frage ich sie. Nachdenklich schließt sie ihre Augen, abwartend sehe ich sie an. "Irgendwie ja, aber auch nein", murmelt Luc.

"Dann bleiben wir einfach noch hier, bis du es weißt", schlage ich vor. "Danke, dass du immer da bist. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde", flüstert sie, was ich mit einem "Nichts zu danken. Du würdest dasselbe für mich tun", quittiere. "Aber deshalb muss man es nicht für jemanden machen. Schließlich würde das nicht jeder", murmelt sie nachdenklich. "Noch nie war ich wie die anderen und darauf bin ich stolz. Man kann etwas nicht einfordern, was man anderen niemals geben würde", erkläre ich ihr ehrlich. Ihr Worte bringen mich tatsächlich zum Nachdenken. "Wer würde wirklich für mich durchs Feuer gehen?", frage ich mich stumm. 

Zweifel ohne Grenzen |F1-FF| |George Russell|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt