Who You Are

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Setting: Dieser OneShot liegt zeitlich gesehen einige Tage vor den Ereignissen des Epilogs von Teil 2: The Five Stages Of Grief. 

Spoiler: keine

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Alles was sie kannte war eine Lüge.

Ihr gesamtes Leben lang erzählte man ihr eine Unwahrheit nach der anderen. Sie wurde verbogen. Zerstört und neu zusammengesetzt als wäre sie nicht mehr als ein Objekt, das keinen Wert hatte. Als wäre sie nicht mehr als eine willenlose Marionette, die statisch zum Rhythmus der auserwählten Lieder tanzte und dabei keinerlei Kontrolle über sich selbst hatte.

Sie lächelte, wenn es andere wollten. Sie weinte, wenn andere es ihr befahlen. Sie verspürte Schmerz, wenn andere ihn ihr zufügten. Sie würde sterben, wenn ein anderer den Abzug drückte.

Aber hinter ihrer scheinbar leeren Hülle; hinter der eiserenen Maske, welche sie sich jahrelang antrainieren musste, steckte mehr – mehr als die reuelose Mörderin, deren Tod nicht einmal betrauert werden würde. Mehr als der Schatten eines Menschen, den man einfach vergessen konnte. Mehr als das, was die Akademie aus ihr gemacht hatte.

Es war ein gefährlicher, gar verbotener Gedanke. Doch eben jener schien sie stetig einzuholen; sie festzuhalten und sich an ihr zu klammern, bis sie nachts stundenlang wach war und an kaum mehr etwas anderes denken konnte.

Denn dies konnte nicht alles in ihrem Leben sein – nicht wahr?

All der Schmerz, den sie ertragen musste; all die Furcht und Zweifel, die sie tagtäglich quälten – war all dies ein Teil ihres Lebens, den sie akzeptieren sollte? Der dazugehörte, ganz gleich wie unerträglich er zu sein schien?

War es ihre Zukunft, die sie leben wollte?

Sie kannte die simple Antwort auf eben diese Frage – denn nach all dem, was geschehen war, wollte sie nicht mehr zurückblicken. Sie konnte es nicht mehr.

Denn die vergangenen Tage hatten die eisig kalte Lüge, welche sie so lange gelebt hatte, entblößt. Hatten die kleine, trügerische Luftblase zerplatzen lassen. Und ein kleiner Teil in ihrem Inneren wünschte sich, dass sie diese Zeit einfach zurückdrehen konnte. Dass sie einfach zu ihrem alten Leben – zu ihrer kleinen, perfekten Welt – zurückkehren konnte.

Aber nun kannte sie die unbarmherzige Wahrheit. Und auch wenn sie schmerzte, vielleicht war es besser eben diese zu akzeptieren, als sich selbst eine Lüge weiter vorzugaukeln.

Vielleicht war es einfacher, die simple Lektion der Madame zu akzeptierten: Es gab für sie keinen Platz in dieser Welt. Den hatte es nie gegeben und den würde es auch nie geben.


Sie besaß nichts.

Sie hatte viele Fehler gemacht.

Aber irgendwann muss man sich entscheiden.

Will man sein, wie die Welt einen sieht?

Oder wer man wirklich ist?


„Mama!"

Mit einem Ruck riss sie ihren nachdenklichen Blick von den amerikanischen Pässen in ihren Händen los. Achtlos schob sie diese zurück in das kleine Versteck zwischen Küchenzeile und Diele, ehe sie sich der kindlichen Stimme zuwandte.

Der ernste Ausdruck auf ihrem Gesicht wich einem sanften Lächeln, als die unsicher stampfenden Schritte durch die kleine, lieblos dekorierte Wohnung hallten und sich ihr zielstrebig weiter näherten. Langsam erhob sie sich und überwand die wenigen Schritte bis hin zur offenen Küchentüre, bevor sie Sekunden später die tapsende Gestalt des kleinen Mädchens abfing und sie mit Schwung auf den Arm nahm.

Phantom - OneShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt