Reindeer - 1.1

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»Kathie, mach endlich die Tür auf!«

Das Brüllen, das aus Richtung des Flurs kam, wurde immer lauter und lauter, ein Hämmern war zu vernehmen.

Ich ignorierte den jenigen, der da vor meiner Wohnungstür stand, und nahm stattdessen einen weiteren großen Löffel von meinem lieblings Eisbecher.

»Kathleen Harper, du machst jetzt diese verdammte Tür auf!«, brüllte es wieder. Ich verdrehte die Augen, schlug jedoch meine Decke zur Seite und stand auf. Hunderte von benutzten Taschentüchern fielen zu Boden.
Es brüllte und hämmerte noch mehrere Male gegen meine Tür, bis ich vor ihr zum Stehen kam.

»Willst du etwa, dass jemand die Polizei ruft?«, zischte ich durch die geschlossene Tür. Ich war mir sicher, dass die Person es verstehen konnte, denn die Türen in diesem Gebäude waren so dünn, dass ich sogar manchmal das Schnarchen meines Nachbarn hörte, der mir gegenüber wohnte - und das durch unsere beiden verschlossenen Türen.

»Hör auf, mich abzuwimmeln und mach die Tür auf.«, stieß mein Bruder aus und hämmerte noch einmal gegen dass Holz.

»Das kannst du vergessen.« Ich ging wieder zurück zu meinem bequemen Platz auf der Couch und löffelte weiter in der Schokoeiscreme.

»Kathie, bitte komm mit nach oben. Du kannst dich doch nicht die ganze Zeit in deiner Wohnung verschanzen und in Selbstmitleid versinken.«, sagte er in einem etwas weicheren Ton, den ich trotz der Entfernung heraushören konnte. Meine Nase fing wieder an zu laufen und meine Augen brannten. Ein weiteres Taschentuch erweiterte den Haufen.

»Oh doch, das kann ich sehr wohl. Ich hab genug Eis- und Taschentuchvorräte für ein ganzes Jahr. Das 'in Selbstmitleid versinken' ist also eine willkommene Option.«, sagte ich verbittert und schneuzte in ein weiteres Tuch.

»Sarkasmus steht dir nicht, Kathie, und komm jetzt endlich mit mir nach oben. Mama und Papa haben sich schon so gefreut mit dir Weihnachten zu verbringen.« Weitere Tränen flossen über meine Wangen und ein ersticktes Wimmern kam über meine Lippen.

»Tja, ich versaue ihnen sowieso nur das frohe Fest mit meiner trübseligen Laune. Feiert lieber ohne mich.« Ich musste mir mehrere Löffel Eis in den Mund stopfen um nicht loszuschreien.

»Sag sowas nicht, Kathie. Komm mit nach oben, genau so, wie wir es geplant hatten.«
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, ich presste meine Fäuste auf meine Augenlider, um die weiteren Tränen zu stoppen.

»Ja, alles wie geplant.«, sagte ich etwas lauter und verkrampfte mich. »Genauso, wie Andie geplant hatte, mit mir über Sprachnachricht schluss zu machen, und mein Handy mir zwei Stunden später eine Benachrichtigung über Instagram mitteilt, wo ich seinen neusten Post sehe, wie er mit einer anderen Frau, mit der er mich die ganze Zeit betrogen hat, in einem Flugzeug sitzt und aufgeregt die zwei Tickets in die Kamera zeigt, die Mama und Papa ihm zu unseren zweijährigen geschenkt haben.« Ich lachte hysterisch auf und warf einen bitteren Blick zum Bild von Andie und mir, wie wir glücklich in die Kamera lächelten. Der schwarze Rahmen hatte nun einen Riss an einer Ecke, und das Glas war zersplittert. Als nächste wäre dann sein Gesicht an der Reihe, welches zertrümmert werden würde.

Hinter der Tür hörte ich, wie mein Bruder einen lauten Fluch ausstieß und seine auf und ab gehenden Schritte bis zu mir reichten.
»Ja«, grummelte er. »Und ich würde diesem verfickten Arschloch auch mit Freuden zeigen, was ihm bevorsteht, wenn er mir noch einmal unter die Augen tritt, aber leider liegen ein paar Meter Höhe zwischen uns.«, knurrte er und trat gegen die Tür. Ich hörte ein Knacken und ein Knarzen. Ich war mir ziemlich sicher, wenn Greg noch einmal gegen sie Hämmern würde, sie endgültig nachgeben würde.

Ich schnaubte verächtlich. »Hör auf den beschützerischen Lackaffen zu spielen.«, sagte ich und machte den nächsten Eisbecher auf. Nuss mit Vanille. Ich verzog das Gesicht und schloss den Becher wieder. Ich war gegen Nüsse allergisch, mir war also entfallen, wann ich dieses Eis gekauft haben soll.

»Tja, ich bin aber nun einmal ein beschützerischer Lackaffe, der seine kleine Schwester verteidigt.«, rief er aus. Ich konnte mir bildlich vorstellen wie er aufhörte hin und her zu tigern und seine Arme in die Luft warf.
Ich musste unwillkürlich kichern, schlug mir aber direkt die Hand auf den Mund, als ich es bemerkte. Greg bemerkte es offensichtlich auch.

»Ha! Ich hab gehört wie du gegrunzt hast! Hör auf mich zu verscheuchen und lass deinen großen Bruder dich aufmuntern.«, sagte er und trat wieder näher an die Tür heran.
Ich biss mir auf die Lippe, um ihn nicht wegen der Bemerkung des Grunzen zu verfluchen, und fasste mir stattdessen an das Armband ein meinem rechten Handgelenk, was er mir an meinem Fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte.

Egal wie aufdringlich er war, er war immer ein echt toller großer Bruder gewesen.

Dennoch konnte ich nicht zu meinen Eltern und Gregs Freundin Alice nach oben. Sie würden mich alle mit diesen großen traurigen Augen ansehen und bemitleiden. Und das konnte ich auch wirklich gut selbst tun.
»Tut mir leid, Greg, aber ich bleibe lieber hier. Los, geh wieder nach oben, du versaust Alice noch das Weihnachtsfest, wenn du die ganze Zeit vor meiner Tür Lager schlägst und auf mich einredest. Wir sehn' uns dann nächstes Jahr wieder!«, sagte ich, halb scherzhaft, halb schluchzend.

Greg gab einen verzweifelten Laut hinter der Tür von sich. »Gott! Diese Sturheit ist ...«

»Die selbe, die du auch hast.«, beendete ich seinen Satz, bevor er es tat. Ein schnaubendes Lachen drang durch die Tür.

Als ein paar Minuten dann Stille herrscht, stand ich wieder auf und trat erneut ans Holz. Durch den Türspion sah ich, dass mein Bruder noch immer wie angewurzelt vor meiner Wohnung quartierte, jedoch hielt er seinen Kopf gesenkt sodass ich nur seinen dunklen Haarschopf sah.
Nach etlichen Minuten, in denen niemand etwas gesagt hatte, hob er endlich seinen Kopf und sah mich mit den gleichen braunen Augen an, die ich auch in meinem Gesicht trug.

»Es tut mir wirklich leid, was er dir angetan hat, Kathie. Wirklich, wirklich leid. Und es ist verdammt schmerzhaft, dich so traurig zu sehen, dass du noch nicht einmal in Mamas und Papas schützende Arme rennen willst. Oder in meine. Aber ich verstehe das. Komm einfach hoch, wenn du dazu bereit bist. Alice wäre übrigens auch da, falls du jemanden zum Reden brauchst.« Seine Stimme war so leise, dass ich sie beinah nicht verstand, aber was ich hörte, zerbrach mein Herz noch ein wenig mehr. Ich legte meine Stirn an das kühle Holz und schloss die Augen. Stille Tränen liefen mir übers Gesicht, während sich Gregs Schritte im Treppenhaus entfernten, und dann ganz verstummten.

Nach unendlich vielen Minuten drehte ich mich wieder um und verkroch mich unter der lila Kuscheldecke. Ein weiterer Eisbecher folgte und zwei weitere Taschentücherboxen, während ich Netflix aufrief und 'Filme mit Herzschmerz' in die Suchleiste eingab.

Der Schmerz war herzlich willkommen.

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