Reindeer - 1.2

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Zum gefühlt zehnten Mal schaute ich jetzt schon von meiner Tür, zu meiner Garderobe und zurück zu meiner Uhr, die mich mit ihrem lauten Ticken zu verspotten versuchte.

Meine Familie war gerade wahrscheinlich am Essen zubereiten. Mein Vater und Greg saßen wahrscheinlich gerade im Wohnzimmer meines Bruders und unterhielten sich über die verschiedenen Saisons von irgendwelchen Sportarten, von welchen ich rein gar nichts verstand. Meine Mutter und Alice waren wahrscheinlich gerade in der Küche beschäftigt, hörten Weihnachtslieder und tanzten dazu.

So wie immer.

Nur das diesmal Andie und ich nicht genau ins Bild passten.
Zumindest nicht mehr.

Als ich diese Stille einfach nicht mehr aushielt, meine Taschentücher mir ausgegangen waren und mir total übel wegen dem vielen Eis war, gab ich mir einen Ruck und trat in den Flur.
Vielleicht könnte ich mich ja wirklich ein bisschen ablenken lassen. Von Gregs Scherzen und Papas alten Geschichten, wo er es doch immer schafft, sich eine neue Geschichte aus dem Ärmel zu ziehen.

Nachdem ich mir meine Schuhe angezogen hatte, zog ich meine Wohnungstür hinter mir zu und steuerte den Aufzug an.
Als sich die Kabine öffnete, flüchtete ich schnell hinein und drückte auf die Taste für den achten Stock. Der Innenraum des Aufzugs war verspiegelt, sodass ich nun dreimal meinem erbärmlich aussehenden Ich gegenüber stand.

Bevor ich gerade aus der Tür spaziert war, hatte ich mir noch schnell eine Jeans angezogen und einen etwas festlicheren Pullover übergezogen, der mir nun doch etwas zu festlich vorkam. Das große Rentier mit der roten Nase und den Lichterketten an seinem Geweih, was mir nun entgegenblickte, war wohl doch etwas übertrieben. Doch das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.

Jedoch sah mein Weihnachtspulli nicht halb so schlimm aus, wie der Rest von mir. Meine Nase war vom ganzen Nase putzen gerötet und wund, meine Augenlider geschwollen, und aus meinem geflochtenen Zopf lösten sich allmählich einzelne braune Strähnen.
Kurzgesagt: Ich sah einfach schrecklich aus.

Als plötzlich ein heller Ton erklang und sich die Aufzugstüren öffneten, merkte ich erst, dass der Aufzug vorerst nach unten gefahren war, weil jemand anderes ebenfalls mitfahren wollte, und ihm der Weg nach unten natürlich schneller kam als vorher ganze sieben Stöcke nach oben zu fahren.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als eine große Gestalt vor mich trat und einen Arm ausstreckte. Ich wich automatisch zurück und stieß dadurch gegen die stählernde Wand hinter mir.

»Sorry«, hörte ich die kratzige Stimme von meinem Gegenüber sagen. Eine Gänsehaut überzog mich. Er räusperte sich kurz und trat einen Schritt zurück. »Ich wollte eigentlich nur auf mein Stockwerk drücken.«, sagte er und deutete auf das Tastenfeld hinter mir.

»Oh« Mit hochroten Wangen wich ich zur Seite und senkte den Kopf. Er trat einen schnellen Schritt vor und drückte dann auf den siebten Stock.

Aus dem Augenwinkel betrachtete ich den Fremden ein wenig argwöhnisch. Vom Fuß auf war er eigentlich recht normal gekleidet, wenn man das T-shirt ignorierte, was sehr ungewöhnlich bei der erzitternden Kälte draußen war, und jetzt über seiner breiten Brust spannte. Jedoch lockte eher das, was sein Gesicht bedeckte, meine Aufmerksamkeit auf sich.

Ein buschiger, weißer Bart verbarg seine untere Gesichtshälfte bis zur Nase, und auf seinem Kopf trug er eine knallrote Weihnachtsmütze mit einer kleinen goldenen Glocke an der Spitze des Stoffs, die herab baumelte und bei jeder Bewegung leise bimmelte. Unter der Mütze schauten ein paar kurze, blonde Haarsträhnen hervor, die jedoch etwas verschwitzt an den Seiten klebten. Als der muskulöse Santa mein Starren bemerkte, drehte er sich mir zu und hob fragend eine Augenbraue. Ich wandte blitzschnell meinen Blick ab und sah dafür auf meine Schuhspitzen.

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