I4 | SAHRA

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Über den plötzlichen Stimmungswandel, über die Unwissenheit und über das, wofür ich bereit war, erschrocken, nahm ich etwas Abstand und stellte mich wieder aufrecht hin.

Alice nahm ihre Brille, band ihren Zopf und sah mich an. Sie sah mich einfach an. Es herrschte eine Leere in ihren Augen und wir wussten beide, dass wir unsere Gedanken in diesem Moment teilen.

Das könnte das Ende sein - von Allem. Von der Politik, von der Sache zwischen uns, von der Unbeschwertheit.

Ich biss mir auf die Innenseite meiner Lippen und kniff meine Augen fest zusammen - der klägliche Versuch, einen klaren Kopf zu bekommen.

Alice kam einen Schritt auf mich zu und griff mit sanftem Druck meine Schulter. "Lille...", flüsterte ich. Sie zog mich in eine feste Umarmung und verließ mein Büro.

Ich sank auf meinen Stuhl und versuchte, die Ereignisse der vergangenen Minuten rational zu betrachten. Doch es gab nichts Rationales an dieser Absurdität.

Es gab nur zwei Frauen, die sich einer unerklärbaren Leidenschaft hingeben wollte und eine Unbekannte, die störte. 'Aber hatte diese Person wirklich gestört, oder mich vor einem großen Fehler bewahrt?'

Ich wäre bereit gewesen, mit einer Faschistin zu schlafen, mit einer handfesten Faschistin. Obwohl ich die letzten Tage über den Fakt gut hinwegsehen konnte und sagen muss, dass es mir beinah egal geworden war. Alice ist eine bemerkenswerte Person mit einer einzigartigen Ausstrahlung.

Genau so viel Angst, wie ich hatte, den Gang zu betreten und jemandem zu begegnen, genau so sicher wusste ich, dass ich den Stress jetzt abbauen musste. Ich zog mir eine Jacke über und ging die Treppen runter.

Den Fahrstuhl nahm ich nicht. Ich wollte keinem begegnen. Unentdeckt in den Innenhof gelaufen, stellte ich mich in die Raucherecke und zündete mir eines dieser Glimmstängel an.

Ich spielte noch ein wenig mit meinem Feuerzeug in der Hand herum, diese Art der Ablenkung beruhigte mich. Unwillkürlich schlich sich mir ein Lächeln auf die Lippen. Alice hatte noch mein Feuerzeug.

Das einzige, was mir in dem Moment von ihr geblieben ist, war der Geschmack ihrer Lippen und das Gefühl ihrer Haut.

Leider holte ich mich selbst wieder in die Realität zurück. Das Arbeiten konnte ich heute wohl vergessen. Obwohl es mir genau so wichtig war, als Autorin angesehen zu werden, wie als Politikerin, würde ich heute keine einzige Mail beantworten.

Einige davon wären echt wichtig gewesen, es ging um Lesungstermine und beim Überfliegen habe ich auch einige Mails von Parteimitgliedern entdeckt - doch die müssten heute alle zurückstecken.

Ich drückte meine Zigarette aus und trat den Weg zurück in das imposante Gebäude an.

in another life - weidelknechtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt